Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert wurde in Istanbul viel experimentiert.
Mit gesetzten Ausgaben ‒ mit Erläuterungen oder Übersetzung in Osmanli.
alle drei: Privatbesitz Ismailoğlu @IsmailogluF
Und dann kam der Fortschritt:
arabischer Kuran in türkischen Buchstaben:
oder "tefsir": kommendierende, paraphrasierende Übertragung
oder "tercüme": poetische Übertragung, die dann auch gebetet werden soll (Vorbild: King James & Luther)
oder "meal": knappe Verständnishilfe ‒ neben dem arabischen qurʾān, dass klar ist, dass er nicht ersetzt werden soll.
Die vierte Option hat sich durchgesetzt.
Alles war im Fluss.
Nicht einmal die Richtung des "Halb"mondes war klar.
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Samstag, 14. Dezember 2019
trau dem Faksimilie
Samstag, 30. November 2019
trau dem Reprint!
Ich habe geschrieben "Trau keinem Reprint".
Das ist unklar.
Ich meinte nicht: Trau keinem Reprint als Koran,
sondern: Trau keinem Reprint als bildgetreue Wiedergabe der Originalhandschrift.
Hier zwei Stellen aus dem Istanbuler Original des 604seitigen muṣḥaf von MNQ -- leider nur Graustufen --;
man erkennt, dass das Pausenzeichen muṭlaq nicht schwarz war
(es war rot):
In der zweiten Zeile fehlt ein yāʾ;
man kann aber das alif als Hamza-Träger lesen,
denn in der östlichen Schreibung
schließt ein Vokalzeichen (hier kasra) auf/unter Alif Hamza ein.
Das hat den Vorteil, dass man das Alif nicht als ḥarf al-madd lesen kann; es ist ja stummer Träger.
Es ist also nicht falsch. Und es wird auch so in Indonesien nachgedruckt.
In Tehran passte man diese Stelle der Parallelstelle an:
Das ist unklar.
Ich meinte nicht: Trau keinem Reprint als Koran,
sondern: Trau keinem Reprint als bildgetreue Wiedergabe der Originalhandschrift.
Hier zwei Stellen aus dem Istanbuler Original des 604seitigen muṣḥaf von MNQ -- leider nur Graustufen --;
man erkennt, dass das Pausenzeichen muṭlaq nicht schwarz war
(es war rot):
In der zweiten Zeile fehlt ein yāʾ;
man kann aber das alif als Hamza-Träger lesen,
denn in der östlichen Schreibung
schließt ein Vokalzeichen (hier kasra) auf/unter Alif Hamza ein.
Das hat den Vorteil, dass man das Alif nicht als ḥarf al-madd lesen kann; es ist ja stummer Träger.
Es ist also nicht falsch. Und es wird auch so in Indonesien nachgedruckt.
In Tehran passte man diese Stelle der Parallelstelle an:
Samstag, 23. November 2019
ar-rasm al-ʿUṯmānī <--> "ar-rasm al-ʿUṯmānī"
Es gibt Leute, die glauben ein bestimmter muṣḥaf stamme vom Khalifen ʿUṯmān,
obwohl er in einem Schreibstil/Duktus geschrieben ist, von dem Experten meinen, dass er erst hundert Jahre später aufkam.
Es gibt Leute, die glauben ein bestimmter muṣḥaf stamme vom Khalifen ʿAlī,
obwohl er in einer Orthographie geschrieben ist, die frühesten hundert Jahre später aufkam (sich noch später durchgesetzt hat).
So einfältig, so leichtgläubig sind Experten nicht.
Trotzdem gibt es welche, die "feststellen",
eine Handschrift sei im ʿuthmanischen rasm geschrieben,
obwohl wir von keiner Handschrift wissen,
dass sie eines der maṣāḥif al-amṣār sei,
oder eine genaue Abschrift davon,
obwohl wir keine Bericht über sie von Zeitgenossen haben,
obwohl wir nicht wissen, welchen rasm die Standardhandschriften hatten.
Was wir haben sind Schriften ÜBER alten Handschriften,
welche Gelehrte, die nie in Kufa, Basra, Damaskus, weder in Bahrain noch im Jemen gewesen sind, Jahrhunderte später geschrieben haben.
Da sich damals schon sieben, zehn, vierzehn kanonische Lesarten etablierten hatten,
die nicht nur als grammatikalisch korrekt galten,
nicht nur vielfach überliefert (die ersten zehn) oder wenigstens anerkannt waren,
sondern angeblich auch mit "dem ʿuṭmānischen rasm" übereinstimmten,
die aber an etwa 40 Stellen Abweichungen hatten, die nicht durch Zusatzzeichen (Diakritika, Vokalzeichen, Verdopplungszeichen, hamza-Zeichen) sondern zusätzliche bzw. fehlende Buchstaben geschrieben wurden,
hat man flugs aus dem EINEN ʿuṯmānischen muṣḥaf deren Fünfe gemacht.
((Sorum wird es wohl gewesen sein:
  Die verschiedenen Leser haben nicht unterschiedlich gelesen,
  weil sie verschiedene maṣāḥif benutzten,
  sondern man ging von verschiedenen maṣāḥif aus,
  weil sie unterschiedlich lasen
  -- ad-Dāni lebte 120 Jahre nach Ibn Muǧāhid.   Marijn van Putten beweist, dass ich falsch liege!!))
"Der ʿuṭmānische rasm" ist ein Glaubensfakt.
Den ʿuṯmānischen rasm kennen wir (noch) nicht,
(Nachtrag: Marijn van Putten ist dabei einen Text zu publizieren, wie er in den frühen Manuskripten steht.) er stimmt sicher nicht mit "dem ʿuṭmānischen rasm" überein.
Dies nicht auseinanderzuhalten, ist unwissenschaftlich.
Es geht auch nicht an, bei der Orthographie der frühen Handschriften
matres lectionis "schwache Buchstaben" zu nennen, weil alif, wau und yāʾ
in einem ganz anderen Zusammenhang (bei der Wortbildung) so genannt werden.
Genausowenig darf man alif als hamza, als Wortende-Anzeiger und als a/ā-Platzhalter
in einen Topf werfen.
Differenziert denken!
Differenziert sprechen!
Und sollte ich nicht genau sein,
dann kritisiere man es bitte!
Und ich bin bereit, mich belehren zu lassen.
Zum Glück sind einige Forscher dabei, sich die alten Handschriften genau anzuschauen. Marijn van Putten stellt nicht nur fest, dass die ältesten Handschriften anders geschrieben wurde, als die von ad-Dānī herangezogenen, sondern auch, dass sie so gelesen wurden, wie sie geschrieben wurden -- also nicht mit durchgehend mit Kasusendungen und tanwīn.
obwohl er in einem Schreibstil/Duktus geschrieben ist, von dem Experten meinen, dass er erst hundert Jahre später aufkam.
Es gibt Leute, die glauben ein bestimmter muṣḥaf stamme vom Khalifen ʿAlī,
obwohl er in einer Orthographie geschrieben ist, die frühesten hundert Jahre später aufkam (sich noch später durchgesetzt hat).
So einfältig, so leichtgläubig sind Experten nicht.
Trotzdem gibt es welche, die "feststellen",
eine Handschrift sei im ʿuthmanischen rasm geschrieben,
obwohl wir von keiner Handschrift wissen,
dass sie eines der maṣāḥif al-amṣār sei,
oder eine genaue Abschrift davon,
obwohl wir keine Bericht über sie von Zeitgenossen haben,
obwohl wir nicht wissen, welchen rasm die Standardhandschriften hatten.
Was wir haben sind Schriften ÜBER alten Handschriften,
welche Gelehrte, die nie in Kufa, Basra, Damaskus, weder in Bahrain noch im Jemen gewesen sind, Jahrhunderte später geschrieben haben.
Da sich damals schon sieben, zehn, vierzehn kanonische Lesarten etablierten hatten,
die nicht nur als grammatikalisch korrekt galten,
nicht nur vielfach überliefert (die ersten zehn) oder wenigstens anerkannt waren,
sondern angeblich auch mit "dem ʿuṭmānischen rasm" übereinstimmten,
die aber an etwa 40 Stellen Abweichungen hatten, die nicht durch Zusatzzeichen (Diakritika, Vokalzeichen, Verdopplungszeichen, hamza-Zeichen) sondern zusätzliche bzw. fehlende Buchstaben geschrieben wurden,
hat man flugs aus dem EINEN ʿuṯmānischen muṣḥaf deren Fünfe gemacht.
((Sorum wird es wohl gewesen sein:
  Die verschiedenen Leser haben nicht unterschiedlich gelesen,
  weil sie verschiedene maṣāḥif benutzten,
  sondern man ging von verschiedenen maṣāḥif aus,
  weil sie unterschiedlich lasen
  -- ad-Dāni lebte 120 Jahre nach Ibn Muǧāhid.   Marijn van Putten beweist, dass ich falsch liege!!))
"Der ʿuṭmānische rasm" ist ein Glaubensfakt.
Den ʿuṯmānischen rasm kennen wir (noch) nicht,
(Nachtrag: Marijn van Putten ist dabei einen Text zu publizieren, wie er in den frühen Manuskripten steht.) er stimmt sicher nicht mit "dem ʿuṭmānischen rasm" überein.
Dies nicht auseinanderzuhalten, ist unwissenschaftlich.
Es geht auch nicht an, bei der Orthographie der frühen Handschriften
matres lectionis "schwache Buchstaben" zu nennen, weil alif, wau und yāʾ
in einem ganz anderen Zusammenhang (bei der Wortbildung) so genannt werden.
Genausowenig darf man alif als hamza, als Wortende-Anzeiger und als a/ā-Platzhalter
in einen Topf werfen.
Differenziert denken!
Differenziert sprechen!
Und sollte ich nicht genau sein,
dann kritisiere man es bitte!
Und ich bin bereit, mich belehren zu lassen.
Zum Glück sind einige Forscher dabei, sich die alten Handschriften genau anzuschauen. Marijn van Putten stellt nicht nur fest, dass die ältesten Handschriften anders geschrieben wurde, als die von ad-Dānī herangezogenen, sondern auch, dass sie so gelesen wurden, wie sie geschrieben wurden -- also nicht mit durchgehend mit Kasusendungen und tanwīn.
Donnerstag, 14. November 2019
Persien / Iran
In einem meiner erstes Posts
zeige ich, dass ʿUṯmān Ṭāhā weniger kalligraphisch schreibt als der 1924er ägyp­tische Regierungsdruck: er bleibt auf der Grundlinie, hat kein Knuddelmīm, so dass IMMER von rechts nach links zu lesen ist: So stehen die Vokalzeichen nicht nur in der richtigen Reihenfolge ‒ was sie auch im osmanischen Stil müssen ‒, sie stehen auch immer nahe bei dem Buchstaben, den sie "bewegen".
Alles in Allem ist ʿUṯmān Ṭahā nah am Setzkasten der Amiriya = vereinfachter osmanischer Duktus.
In "Kein Standard" konzentriere ich mich auf die Rechtschreibung, besonders auf die afrikanische (maghebinisch-arabische) sowie die indo-pakistanische
und folglich auch auf arabische, osmanische und indische Schreibung. Aus dem Iran zeige ich fast nur Nastaʿliq.
Deshalb hier der in maṣāḥif üblische persische Schreibstil, alle Beispiele aus Reprints persi­scher Handschriften.
auch wenn von drei verschiedenen (berühmten) Kalligraphen, schreiben sie ziemlich ähnlich.
Unten rechts wie oft in Persien und Indien steht wa allein, getrennt von dem Wort, mit dem es zusammengeschrieben gehört.
Hier noch zwei Beispiele von "wa-" am Zeilenende; das erste finde ich besonders schlimm, weil das alif-waṣl von seinem Vokal /a/ getrennt steht.
In "Kein Standard" zeige ich Bilder aus vier verschiedenen ʿUṯmān-Ṭāhā-Ausgaben aus Tehran (eine mit 12 Zeilen Interlinear-Übersetzung pro Seite, einer mit ʿUṯmān-Ṭāhā-Font gesetzt). Hier eine mit 11 Zeilen; alle Wörter original, alle Zeilen neu (das Original hat 15 schmälere Zeilen je Seite). Leider wieder der "wa-"Fehler:
Diese Interlinear-Ausgabe ist "persischer" im Schreibstil und bei den Zusatzzeichen. Aber wie bei UT 604 Seiten:
Alles in Allem ist ʿUṯmān Ṭahā nah am Setzkasten der Amiriya = vereinfachter osmanischer Duktus.
In "Kein Standard" konzentriere ich mich auf die Rechtschreibung, besonders auf die afrikanische (maghebinisch-arabische) sowie die indo-pakistanische
und folglich auch auf arabische, osmanische und indische Schreibung. Aus dem Iran zeige ich fast nur Nastaʿliq.
Deshalb hier der in maṣāḥif üblische persische Schreibstil, alle Beispiele aus Reprints persi­scher Handschriften.
auch wenn von drei verschiedenen (berühmten) Kalligraphen, schreiben sie ziemlich ähnlich.
Unten rechts wie oft in Persien und Indien steht wa allein, getrennt von dem Wort, mit dem es zusammengeschrieben gehört.
Hier noch zwei Beispiele von "wa-" am Zeilenende; das erste finde ich besonders schlimm, weil das alif-waṣl von seinem Vokal /a/ getrennt steht.
In "Kein Standard" zeige ich Bilder aus vier verschiedenen ʿUṯmān-Ṭāhā-Ausgaben aus Tehran (eine mit 12 Zeilen Interlinear-Übersetzung pro Seite, einer mit ʿUṯmān-Ṭāhā-Font gesetzt). Hier eine mit 11 Zeilen; alle Wörter original, alle Zeilen neu (das Original hat 15 schmälere Zeilen je Seite). Leider wieder der "wa-"Fehler:
Diese Interlinear-Ausgabe ist "persischer" im Schreibstil und bei den Zusatzzeichen. Aber wie bei UT 604 Seiten:
Mittwoch, 13. November 2019
Rechtschreibung
Viele denken, dass es EINE Art gebe,
den Qurʾān zu schreiben ‒ wenn man die verschiedenen Lesarten unberücksichtigt lasse.
Viele vermuten, dass die Handschriften und Drucke optimal seien.
Das Gegenteil ist richtig:
es gibt keinen fehlerlosen Druck:
bei den Arabern sind viele Stellen, an denen ein Langvokal kurz gesprochen, nicht markiert;
ferner fehlen bei den Arabern Ägyptens und des Ostens Angaben zur Vokalisierung von alif-waṣl FALLS mit ihnen eingesetzt wird.
Bei Türken, Persern, Indern, Indonesiern fehlen Angaben zu verschiedenen Realisierung von tanwīn {was nicht schlimm ist}, sowie zu Feinheiten der Assimilierung.
Zur Schreibung der Langvokale
gibt es ein alten indisches System, was zur Zeit niemand benutzt.
Es stützt sich auf sieben Vokalzeichen (a ā i ī u ū x) und
ignoriert ‒ außer bei Diphtongen ‒ die Vokalbuchstaben.
Daneben ‒ ich bin geneigt "dagegen" zu sagen ‒ gibt es ein afrikanisches System, das immer zweier­lei braucht:
ein Vokalzeichen UND einen Vokalbuchstaben;
hier wird ein kleiner Vokalbuchstaben ergänzt, wenn im rasm keiner steht
‒ auch wenn "nur" die Regeln der Prosodie oder der Reim die Längung erfordern.
Erfordert die Prosodie die Kürzung, bleibt das unberücksichtigt.
Erfordert der Reim die Kürzung, wird es notiert.
In türkischen Ausgaben wird die Längung zu /ī/ notiert,
die zu /ū/ NICHT.
Indonesier, die osmanische Kopien nachdrucken, korrigieren dies.
Hier ein paar Wörter aus einem indischen Manuskript von etwa 1800 (Sura Hūd)
und die moderne indische Schreibung, in der das KURZvokalzeichen steht ‒ wie in Afrika ‒,
FALLS der richtige Vokalbuchstabe folgt.
Folgt der falsche oder gar keiner, steht ‒ wie früher ‒ der LANGvokalbuchstabe.
Beim Diphtong (al-farīqaini in der letzten Zeile) bekommt der Vokalbuchstabe ǧazm,
damit man weiß, das er nicht stumm ist.
In 7:103 und 3:144+21:34 11:97+ 10:75+23:46+28:32+ 43:46 sind trotz Schreibunterschiede Laute und rasm gleich:
wa-malaʾihī
IPak: وَمَلَا۠ئِهٖ
Q52: وَمَلَإِي۠هِۦ
Im rasm steht je eine mater für /a/ und /i/ ‒ ja wirklich für KURZE VOKALE,
weil die allerersten Schreiber keine andere Möglichkeit hatten, das zu notieren.
in Indien ist das alif stumm (längt das fatḥa nicht), das yāʾ trägt das Hamza,
in Arabien trägt das alif das Hamza, das yāʾ ist stumm.
In 3:144 + 21:34 ʾa-faʾin
IPak: افَا۠ئِنْ
Q52: اَفإي۠ن
Inder und Türken machen das alif stumm
(früher setzten die Inder NICHTS auf das alif, heute den Stumm-Kreis,
die Türken das Wort qaṣr darunter)
die Araber sehen das alif als Hamza-Träger, das yāʾ als stumm.
Muṣṭafā Naẓīf lässt das stumme yāʾ in seinem (in Deutschland und Indonesia nachgedrucktem) 604er berkenar muṣḥaf in 21:34 weg: اَفَإنْ
Sonst hat er ‒ wie üblich ‒ alif und yā, aber in dem 604er fehlt das yāʾ und die meisten Herausgeber der Reprints stört(e) das nicht.
Hier zwei Seiten mit der gleichen Stelle aus Sura Ḥūḍ, damit Sie sehen, dass das keine Idiosynkrasie des Schreibers war, sondern ein durchdachtes System ‒ Achtung: das umgedrehte ḍamma steht meist über dem waw, gehört aber zum Konsonaten davor, das waw ist stumm.
den Qurʾān zu schreiben ‒ wenn man die verschiedenen Lesarten unberücksichtigt lasse.
Viele vermuten, dass die Handschriften und Drucke optimal seien.
Das Gegenteil ist richtig:
es gibt keinen fehlerlosen Druck:
bei den Arabern sind viele Stellen, an denen ein Langvokal kurz gesprochen, nicht markiert;
ferner fehlen bei den Arabern Ägyptens und des Ostens Angaben zur Vokalisierung von alif-waṣl FALLS mit ihnen eingesetzt wird.
Bei Türken, Persern, Indern, Indonesiern fehlen Angaben zu verschiedenen Realisierung von tanwīn {was nicht schlimm ist}, sowie zu Feinheiten der Assimilierung.
Zur Schreibung der Langvokale
gibt es ein alten indisches System, was zur Zeit niemand benutzt.
Es stützt sich auf sieben Vokalzeichen (a ā i ī u ū x) und
ignoriert ‒ außer bei Diphtongen ‒ die Vokalbuchstaben.
Daneben ‒ ich bin geneigt "dagegen" zu sagen ‒ gibt es ein afrikanisches System, das immer zweier­lei braucht:
ein Vokalzeichen UND einen Vokalbuchstaben;
hier wird ein kleiner Vokalbuchstaben ergänzt, wenn im rasm keiner steht
‒ auch wenn "nur" die Regeln der Prosodie oder der Reim die Längung erfordern.
Erfordert die Prosodie die Kürzung, bleibt das unberücksichtigt.
Erfordert der Reim die Kürzung, wird es notiert.
In türkischen Ausgaben wird die Längung zu /ī/ notiert,
die zu /ū/ NICHT.
Indonesier, die osmanische Kopien nachdrucken, korrigieren dies.
Hier ein paar Wörter aus einem indischen Manuskript von etwa 1800 (Sura Hūd)
und die moderne indische Schreibung, in der das KURZvokalzeichen steht ‒ wie in Afrika ‒,
FALLS der richtige Vokalbuchstabe folgt.
Folgt der falsche oder gar keiner, steht ‒ wie früher ‒ der LANGvokalbuchstabe.
Beim Diphtong (al-farīqaini in der letzten Zeile) bekommt der Vokalbuchstabe ǧazm,
damit man weiß, das er nicht stumm ist.
In 7:103 und 3:144+21:34 11:97+ 10:75+23:46+28:32+ 43:46 sind trotz Schreibunterschiede Laute und rasm gleich:
wa-malaʾihī
IPak: وَمَلَا۠ئِهٖ
Q52: وَمَلَإِي۠هِۦ
Im rasm steht je eine mater für /a/ und /i/ ‒ ja wirklich für KURZE VOKALE,
weil die allerersten Schreiber keine andere Möglichkeit hatten, das zu notieren.
in Indien ist das alif stumm (längt das fatḥa nicht), das yāʾ trägt das Hamza,
in Arabien trägt das alif das Hamza, das yāʾ ist stumm.
In 3:144 + 21:34 ʾa-faʾin
IPak: افَا۠ئِنْ
Q52: اَفإي۠ن
Inder und Türken machen das alif stumm
(früher setzten die Inder NICHTS auf das alif, heute den Stumm-Kreis,
die Türken das Wort qaṣr darunter)
die Araber sehen das alif als Hamza-Träger, das yāʾ als stumm.
Muṣṭafā Naẓīf lässt das stumme yāʾ in seinem (in Deutschland und Indonesia nachgedrucktem) 604er berkenar muṣḥaf in 21:34 weg: اَفَإنْ
Sonst hat er ‒ wie üblich ‒ alif und yā, aber in dem 604er fehlt das yāʾ und die meisten Herausgeber der Reprints stört(e) das nicht.
Hier zwei Seiten mit der gleichen Stelle aus Sura Ḥūḍ, damit Sie sehen, dass das keine Idiosynkrasie des Schreibers war, sondern ein durchdachtes System ‒ Achtung: das umgedrehte ḍamma steht meist über dem waw, gehört aber zum Konsonaten davor, das waw ist stumm.
trau keinem Reprint ...
... es sei denn du hast ihn selbst "verbessert"!
Ḥāfiẓ ʿUṯmān (1642-98)'s muṣḥaf auf 815 Seiten (ohne das Abschlussgebet, den Index und das Kolophon) ist sehr oft und sehr lange in Syrien (in Ägypten meist mit tafsīr) nachgedruckt worden; einen aus mehreren zusammengeschusterten 604seitigen von Haǧǧ Ḥāfiẓ ʿUṯmān Ḫalīfa QayišZāde an-Nūrī al-Burdurī (Hac Hattat Kayışzade Hafis Osman Nuri Efendi Burdurlu gestorben 11. März 1894 (4 Ramaḍān 1311) findet man oft in der Türkei.
Links ein Damaszener Druck vor 1950 mit vielen Zeichen, die später getilgt wurden:
kleines hā' und yā' für Fünf und Zehn (15,20, 25,30 ...)
zwei Kleinbuchstaben (immer eines davon bā') über baṣrische Verszählung
kleine punktlose Buchstaben unter oder über einem punktlosen Buchstaben, um zu betonen, dass da kein Punkt fehlt (oder auch لا, was wie ein V oder VogelFlügel aussieht ‒ in manchen Manuskripten bekommen dāl und rāʾ einen Punkt darunter, um zu sagen nicht-zāʾ, nicht-ḏāl).
In der Mittel (auf blassgrünem Grund) habe ich zwei Stellen hervorgehoben:
bei der ersten haben die modernen türkischen Bearbeiter (siehe rechts /gelblich) die zwei Wörter von anderen Stellen im muṣḥaf hierhinkopiert, damit es klar und deutlich von Rechts nach links geht, damit jedes Vokalzeichen "richtig" platziert ist.
bei der zweiten Stelle haben sich die Herausgeber an dem 815er muṣḥaf bedient, um den rasm zu "korrigieren": auf dem folgenden Bild aus dem "syrischen" BHO (dem Großen, dem Älteren): hellblau sind ihmal-Zeichen: Halbkreis, nach oben offen, über dem sīn (drei untergesetzte Punkte sind eine Alternative dazu) bei ḥ ein ḥ darunter, also kein ḫ, noch ein ǧ das pinke هـ ist auch ein ihmal-Zeichen, sagt: kein tāʾ-marbūṭa wieder ein Halbkreis über rā' von rabb (könnte auch ein untersetzter Punkt sein) ansonsten ع : kein ġain, und ک :kein lām Grün: Pausenzeichen, wie auch heute üblich: lā, ǧ(a'iz) dunkelblau oder hellblau: لب تب basrisch kein VersEnde bzw basr. Versende (تام) zu dieser Gruppe gehören auch حب عب : basrisch-5, basrisch-10 rot sind die waṣl-Zeichen Was ist daran anders als sonst. Während in Indien nichts steht (Grundregel: Nichts --> nicht zu sprechen), und im Westen immer ein waṣl-Zeichen steht, steht bei den Osmanen der ṣād-Kopf nur vor einem "stummen Buchstaben", meist einem an den dahinterstehenden assimilierten. Desgleichen in diesem Bild, plus zwei neuen Dingen: das erste Wort von Vers 16 الله (normalerweise waṣl-Zeichen) hat hier ein (in Handschriften und guten Drucken rotes) Fatḥa, WEIL nach obligater Pause. Auf dem nächsten Bild ein عـ beim Versende, wo jetzt 201 steht, das bedeute mal: Zehner, also 200 (Zusammenziehung von zwei Versen und Teilung (keine Verschiebungen) sind innerhalb einer kanonischen Zählung möglich)
Ḥāfiẓ ʿUṯmān (1642-98)'s muṣḥaf auf 815 Seiten (ohne das Abschlussgebet, den Index und das Kolophon) ist sehr oft und sehr lange in Syrien (in Ägypten meist mit tafsīr) nachgedruckt worden; einen aus mehreren zusammengeschusterten 604seitigen von Haǧǧ Ḥāfiẓ ʿUṯmān Ḫalīfa QayišZāde an-Nūrī al-Burdurī (Hac Hattat Kayışzade Hafis Osman Nuri Efendi Burdurlu gestorben 11. März 1894 (4 Ramaḍān 1311) findet man oft in der Türkei.
Links ein Damaszener Druck vor 1950 mit vielen Zeichen, die später getilgt wurden:
kleines hā' und yā' für Fünf und Zehn (15,20, 25,30 ...)
zwei Kleinbuchstaben (immer eines davon bā') über baṣrische Verszählung
kleine punktlose Buchstaben unter oder über einem punktlosen Buchstaben, um zu betonen, dass da kein Punkt fehlt (oder auch لا, was wie ein V oder VogelFlügel aussieht ‒ in manchen Manuskripten bekommen dāl und rāʾ einen Punkt darunter, um zu sagen nicht-zāʾ, nicht-ḏāl).
In der Mittel (auf blassgrünem Grund) habe ich zwei Stellen hervorgehoben:
bei der ersten haben die modernen türkischen Bearbeiter (siehe rechts /gelblich) die zwei Wörter von anderen Stellen im muṣḥaf hierhinkopiert, damit es klar und deutlich von Rechts nach links geht, damit jedes Vokalzeichen "richtig" platziert ist.
bei der zweiten Stelle haben sich die Herausgeber an dem 815er muṣḥaf bedient, um den rasm zu "korrigieren": auf dem folgenden Bild aus dem "syrischen" BHO (dem Großen, dem Älteren): hellblau sind ihmal-Zeichen: Halbkreis, nach oben offen, über dem sīn (drei untergesetzte Punkte sind eine Alternative dazu) bei ḥ ein ḥ darunter, also kein ḫ, noch ein ǧ das pinke هـ ist auch ein ihmal-Zeichen, sagt: kein tāʾ-marbūṭa wieder ein Halbkreis über rā' von rabb (könnte auch ein untersetzter Punkt sein) ansonsten ع : kein ġain, und ک :kein lām Grün: Pausenzeichen, wie auch heute üblich: lā, ǧ(a'iz) dunkelblau oder hellblau: لب تب basrisch kein VersEnde bzw basr. Versende (تام) zu dieser Gruppe gehören auch حب عب : basrisch-5, basrisch-10 rot sind die waṣl-Zeichen Was ist daran anders als sonst. Während in Indien nichts steht (Grundregel: Nichts --> nicht zu sprechen), und im Westen immer ein waṣl-Zeichen steht, steht bei den Osmanen der ṣād-Kopf nur vor einem "stummen Buchstaben", meist einem an den dahinterstehenden assimilierten. Desgleichen in diesem Bild, plus zwei neuen Dingen: das erste Wort von Vers 16 الله (normalerweise waṣl-Zeichen) hat hier ein (in Handschriften und guten Drucken rotes) Fatḥa, WEIL nach obligater Pause. Auf dem nächsten Bild ein عـ beim Versende, wo jetzt 201 steht, das bedeute mal: Zehner, also 200 (Zusammenziehung von zwei Versen und Teilung (keine Verschiebungen) sind innerhalb einer kanonischen Zählung möglich)
Donnerstag, 10. Oktober 2019
der rasm ‒ deutsch
Vom Wortsinn her ist es: Strich, Zug, Riss
Was gar nicht geht, ist: Konsonantengerüst.
Kon-Sonanten, Mit-Klinger bezeichnet zuerst Laute ‒ dann Zeichen für diese.
Ist von Text, Strich, Zug, Gerüst die Rede können nur Zeichen gemeint sein.
Diese sind aber gar keine Mit-Klinger, sondern Buchstaben.
Mit-Klinger gibt es logisch nur, wenn es Klinger gibt.
Nur wo es Vokal-Zeichen gibt, kann es Konsonant-Zeichen geben.
(Da Griechen kein ḥ sprachen, haben sie den Buchstaben ḥēt zum ē gemacht = die Erfindung des Vokals.
aus Jud wurde ī, aus ʿain Omikron, aus waw Ypsilon (ū).)
Die Buchstaben im Qurʾān ‒ in den frühen Manuskripten und den Texten, die sich auf ad-Dānī & Co. berufen, ‒ sind Buchstaben, nicht Kon-Sonanten.
Wenn überhaupt, sind es Kon-Sonanten, UND WortendeMarkierer UND Sonanten ‒ Langvokale und Kurzvokale (deshalb sind für heutige Araber einige Buchstaben überflüssig).
Dass hunderte Buchstaben (ḥurūf al-madd wa'l-līn) Langvokal bzw. Diphthong anzeigen, dürfte allgemein bewusst sein, aber auch Kurzvokale werden durch Buchstaben ‒ die eben KEINE reinen KONsonanten sind ‒ markiert: sehr oft اولٮك aber auch seltene Wörter wie وملاٮه (7:103) الأعراف١٠٣ bei dem man heute zwei stumme Buchstaben sieht: einen hamza-Träger und einen überflüssigen; ursprünglich standen die für (Kurz-)Vokale (a i, aʾi, ayi).
Genau so ist es bei اڡاىں (3;144 + 21:34) IPak: افَا۠ئِنْ Q52: اَفإي۠ن
Auch in dem häufigen اولٮك stand das wau für /u/;
heute ist es stumm, da das ḍamma auf dem Alif fur /u/ steht.
Ebenso in ساورىكم
(7:145, 21:37), لاوصلٮٮكم
(7:124, 20:71, 26:49)
Schön auch das 22. Wort in 3:195 واودوا
sechs Buchstaben,
gewiss keine sechs Konsonanten.
Es ist logisch unmöglich, dass es nur Kon-Sonanten sind.
Auch phonetisch schwierig: Nichts kann MIT-schwingen, wenn es keine Schwinger gibt.
Also bleibt man wohl beim graphischen Ursinn: Strich, Zug, Riss.
Was gar nicht geht, ist: Konsonantengerüst.
Kon-Sonanten, Mit-Klinger bezeichnet zuerst Laute ‒ dann Zeichen für diese.
Ist von Text, Strich, Zug, Gerüst die Rede können nur Zeichen gemeint sein.
Diese sind aber gar keine Mit-Klinger, sondern Buchstaben.
Mit-Klinger gibt es logisch nur, wenn es Klinger gibt.
Nur wo es Vokal-Zeichen gibt, kann es Konsonant-Zeichen geben.
(Da Griechen kein ḥ sprachen, haben sie den Buchstaben ḥēt zum ē gemacht = die Erfindung des Vokals.
aus Jud wurde ī, aus ʿain Omikron, aus waw Ypsilon (ū).)
Die Buchstaben im Qurʾān ‒ in den frühen Manuskripten und den Texten, die sich auf ad-Dānī & Co. berufen, ‒ sind Buchstaben, nicht Kon-Sonanten.
Wenn überhaupt, sind es Kon-Sonanten, UND WortendeMarkierer UND Sonanten ‒ Langvokale und Kurzvokale (deshalb sind für heutige Araber einige Buchstaben überflüssig).
Dass hunderte Buchstaben (ḥurūf al-madd wa'l-līn) Langvokal bzw. Diphthong anzeigen, dürfte allgemein bewusst sein, aber auch Kurzvokale werden durch Buchstaben ‒ die eben KEINE reinen KONsonanten sind ‒ markiert: sehr oft اولٮك aber auch seltene Wörter wie وملاٮه (7:103) الأعراف١٠٣ bei dem man heute zwei stumme Buchstaben sieht: einen hamza-Träger und einen überflüssigen; ursprünglich standen die für (Kurz-)Vokale (a i, aʾi, ayi).
Genau so ist es bei اڡاىں (3;144 + 21:34) IPak: افَا۠ئِنْ Q52: اَفإي۠ن
Auch in dem häufigen اولٮك stand das wau für /u/;
heute ist es stumm, da das ḍamma auf dem Alif fur /u/ steht.
Ebenso in ساورىكم
(7:145, 21:37), لاوصلٮٮكم
(7:124, 20:71, 26:49)
Schön auch das 22. Wort in 3:195 واودوا
sechs Buchstaben,
gewiss keine sechs Konsonanten.
Es ist logisch unmöglich, dass es nur Kon-Sonanten sind.
Auch phonetisch schwierig: Nichts kann MIT-schwingen, wenn es keine Schwinger gibt.
Also bleibt man wohl beim graphischen Ursinn: Strich, Zug, Riss.
Sonntag, 15. September 2019
Begegnen Neuwirth (= Angelika Kleinknecht)
Die „Standardausgabe“ von 1924/5 hat keinen Titel. Bayerische und Preussische Staatsbiblothek
sowie die FU Berlin setzen sie als „[al-Qurʾān]“ an.
„Amticher ägyptische Q.“ und „König-Fuʾad-Ausgabe“ sind übliche Bezeichnungen.
Kairiner Buchhändler nannten sie „der 12-Zeilige مصحف ١٢ سطر“. (Die Šamarli-Ausgabe
hieß „der 15-Zeilige“, woran man deren Bedeutung erkennen kann – die Ausgaben von
Muṣṭafā Naẓif und von ʿUṯmān Ṭāhā sowie der Azhar-Muṣḥaf (1969-79) haben auch 15 Zeilen je Seite.)
Im Internet findet man sie meist als مصحف المساحة
auch als مصحف المساحة والاميریة oder Egyptian Survey (Authority) Qurʾān also als "Grundbuchamtquran".
Auch "Koran der Amīriyya" ist ein geläufiger Name.
Da Begegnen Neuwirth schon Professorin ist, braucht sie sich nicht an die Regeln wissenschaftlicher Titelansetzung zu halten, die verlangen nämlich eckige Klammern um angenommenen, erschlossene, selbst kreierte Titel, Titel also, die man weder auf dem Buchumschlag, noch auf einer Titelseite finden kann. Wissenschaftlich handelt es sich um „[al-Qurʾān]“. Neuwirth aber nennt ihn mal „Al-Qur‘ân al-Karîm, Kairo 1925“ (Der Koran als Text der Spätantike, Berlin: Suhrkamp 2010. p. 30, auch p.261) mal „Qur‘ân karîm 1344/1925“ (ebd. p. 273). Neuwirths Erscheinungsjahr könnte stimmen, obwohl bibliographisch maßgebend ist, was das Buch selbst von sich behauptet: 1924. Es steht aber IM Buch SELBST, dass sein Druck "am 7. Ḏulḥigga 1342 (= 10.7.1924) abgeschlossen" worden sein.
Wie kann im Buch vom Abschluss des Druckes so genau berichtet werden? Es kann nur der Druck des qurʾānichen Textes gemeint sein. Die Nachricht darüber kann aber erst danach gesetzt worden sein, der ganze Anhang erst danach gedruckt. Druck des gesamten Werkes und erst recht die Bindung kann eigentlich erst 1925 abgeschlossen worden sein ‒ was auch die Blindprägung in Bergsträßers Band nahelegt.
Besonders schön ist folgende Feststellung der Professorin:
"in order to be finally, in the last century, exactely in 1925, to be transformed into a printed text" wäre näher am Original.
Dies lesend dachte ich, Neuwirth sei komplett verrückt geworden. Jeder Student der Geschichte des Korans hat Victor Chauvin gelesen oder mindestens Hartmut Bobzin (oder Schulze oder Puin).
Wo sie studierte, in München, gibt es über zwanzig Korandrucke aus der Zeit vor 1924.
Als sie ihr Opus Magnum schrieb, gab es schon Internet, worin man hunderte Drucke, die Bibliotheken in London, Berlin, Oxford, Amsterdam bereithalten, finden kann.
Seit 1830 gab es viele Drucke in muslimischen Ländern, seit 1870 sehr viele ‒ und von hoher Qualität.
Ich hielt Begegnen Neuwirth für völlig gaga, bis ich eine Fußnote von Gabriel Said Reynolds las. In der "Introduction" zu The Qur'ān in its Historical Context, Abingdon: Routledge 2008 schreibt er
Ferner: Während die Lautgestalt wohl durch die Jahrhunderte von Lehrer zu Schüler weitergereicht wurde, geschah das – zumindest in Ägypten – nicht mit dem Kodex. Die KFA basiert weder auf den ältesten Manuskripten, noch auf den jüngsten; sie basiert laut Bergsträßer auf dem auswendig gewussten Text und Werken von andalusischen Gelehrten. Oder schlicht auf marokkanischen Ausgaben ohne die Warš-Besonderheiten.
begegnen
Warum muss ich kotzen, wenn ich Texte von Begegnen Neuwirth lese?
Das Wort, wie sie es gebraucht, ist Jargon so wie das waidmännische "Losung".
In der Orientalistik ist es jüngsten Datums.
Bergsträßer verwendet das Wort überhaupt nicht.
Vollers verwendet es korrekt, "Die syntaktischen Unterschiede, die uns ... begegnen," "die Form, die uns im Qorân fünfmal begegnet".
1977 kannte das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache das neuwirthsche "begegnen" noch nicht. Dass es neben dem ursprünglichen reziproken
einander begegnen
mit jemandem zufällig zusammentreffen; jemanden zufällig treffen
schon das transitive
jemandem, etwas begegnen
etwas antreffen, auf etwas stoßen
und die instransitiven
widerfahren (so etwas ist mir noch nie begegnet)
sowie
auf etwas in bestimmter Weise reagieren (einer Gefahr mutig begegnen)
gibt,
reicht völlig.
Es muss nicht auch noch das neuwirthsche absolute Verb geben.
Kein Wort muss alles bedeuten.
Kein Wort sollte mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen werden,
wenn man das schon auf zig andere Weisen sagen kann.
Nur um sich vom gemeinen Volk abzusetzen,
hat Begegnen Neuwirth aus dem korrekten Gebrauch
parfumierte Scheiße gemacht.
Warum sage ich das?
Weil es nur dazu dient, Duftmarken zu setzen.
Die meisten ihrer Sudent*innen machen es ihr nach!
Wenn es nur eine Verrückte wäre, die sich interessant macht,
hielte ich meinen Mund.
Weil es aber Kohorten von Lemmingen gibt,
melde ich mich zu Wort.
Es gibt einen korrekten Gebrauch, den Dummköpfe "verfeinert" haben:
Nach meinem Sprachempfinden ist Alles was A. Begegnen Neuwirth schreibt,
Losung.
Etwa "Die Sure ist Einheit." (zig mal).
Deutsch ist das nicht.
Die Sure ist eine Einheit
und
Die Sure ist einheitlich.
sind deutsch.
A. Begegnen Neuwirths Satz ist schlicht falsch.
Was sie sagen will:
Keine Einschübe.
Spätere Einschübe gibt es nicht.
Die Sure ist aus einem Guss.
oder ‒ ganz unbegegnenneuwirthisch formuliert ‒:
Einschübe habe ich keine festgestellt.
Einschübe sind mir nicht aufgefallen.
Und noch Mal:
Wenn man im Internet einen chronologischen Koran publiziert, übersetzt und kommentiert,
muss man eine Sure so oft abdrucken, wie sie gekürzt oder erweitert wird,
nicht nur einmal (das erste Mal),
und dort erwähnen, was später alles dazukam.
Wenn man ‒ wie Begegnen Neuwirth ‒ davon ausgeht,
dass der Koran nicht aus Versen besteht,
sondern aus Suren,
dann ist eine veränderte Sure,
neu in der Chronologie zu platzieren.
Nur so bekommen die Leser einen Eindruck von dem neuen Stadium,
dem neuen Umfeld von frisch geoffenbarten (frisch verkündeten/ neu bearbeiteten) Suren.
Da Begegnen Neuwirth schon Professorin ist, braucht sie sich nicht an die Regeln wissenschaftlicher Titelansetzung zu halten, die verlangen nämlich eckige Klammern um angenommenen, erschlossene, selbst kreierte Titel, Titel also, die man weder auf dem Buchumschlag, noch auf einer Titelseite finden kann. Wissenschaftlich handelt es sich um „[al-Qurʾān]“. Neuwirth aber nennt ihn mal „Al-Qur‘ân al-Karîm, Kairo 1925“ (Der Koran als Text der Spätantike, Berlin: Suhrkamp 2010. p. 30, auch p.261) mal „Qur‘ân karîm 1344/1925“ (ebd. p. 273). Neuwirths Erscheinungsjahr könnte stimmen, obwohl bibliographisch maßgebend ist, was das Buch selbst von sich behauptet: 1924. Es steht aber IM Buch SELBST, dass sein Druck "am 7. Ḏulḥigga 1342 (= 10.7.1924) abgeschlossen" worden sein.
Wie kann im Buch vom Abschluss des Druckes so genau berichtet werden? Es kann nur der Druck des qurʾānichen Textes gemeint sein. Die Nachricht darüber kann aber erst danach gesetzt worden sein, der ganze Anhang erst danach gedruckt. Druck des gesamten Werkes und erst recht die Bindung kann eigentlich erst 1925 abgeschlossen worden sein ‒ was auch die Blindprägung in Bergsträßers Band nahelegt.
Besonders schön ist folgende Feststellung der Professorin:
der „verschriftlichte[] Korankodex, muṣḥaf, [wurde] durch … Überlieferung durch die Jahrhunderte weitertradiert …, um schließlich im letzten Jahrhundert, im Jahre 1925, in die Form eines gedruckten Textes einzugehen." Der Koran als Text der Spätantike, Berlin: Suhrkamp 2010. p. 190In der von ihr autorisierten amerikanischen Ausgabe (Angelika Neuwirth, The Qur’an and Late Antiquity, New York: Oxford UP 2019. p. 110) heißt es: "the written Qur’an codex, muṣḥaf, … was handed down through the centuries by tradition … until finally, it merged in the year 1925, into the form of a printed text."
"in order to be finally, in the last century, exactely in 1925, to be transformed into a printed text" wäre näher am Original.
Dies lesend dachte ich, Neuwirth sei komplett verrückt geworden. Jeder Student der Geschichte des Korans hat Victor Chauvin gelesen oder mindestens Hartmut Bobzin (oder Schulze oder Puin).
Wo sie studierte, in München, gibt es über zwanzig Korandrucke aus der Zeit vor 1924.
Als sie ihr Opus Magnum schrieb, gab es schon Internet, worin man hunderte Drucke, die Bibliotheken in London, Berlin, Oxford, Amsterdam bereithalten, finden kann.
Seit 1830 gab es viele Drucke in muslimischen Ländern, seit 1870 sehr viele ‒ und von hoher Qualität.
Ich hielt Begegnen Neuwirth für völlig gaga, bis ich eine Fußnote von Gabriel Said Reynolds las. In der "Introduction" zu The Qur'ān in its Historical Context, Abingdon: Routledge 2008 schreibt er
the standard Egyptian edition of the Qur’an, first published on July 10, 1924 (Dhu l-Hijja 7, 1342) in Cairo, … was the not the first printed edition of the Qur’an, which was instead that commissioned by Muhammad ‘Ali in Egypt in 1833Dass Gizeh 1925 ‒ fälschlich auch "Kairo 1925" ‒ nicht die erste gedruckte Ausgabe ist, schien mir, bis ich diese Fußnote las, für so selbstverständlich wie, dass es manchmal in London regnet und im Winter in Moskau schneit: nicht erwähnenswert! Doch Reynolds wusste es nicht, bis er den Artikel "Printing" in der Encyclopedia of the Quran gelesen hatte, dem er entnahm, dass der erste Druck eines ägyptischen muṣḥaf 1833 erfolgt sei ‒ was aber aber Unsinn ist; es gab allenfalls den Druck eines kleinen Auszugs!
Ferner: Während die Lautgestalt wohl durch die Jahrhunderte von Lehrer zu Schüler weitergereicht wurde, geschah das – zumindest in Ägypten – nicht mit dem Kodex. Die KFA basiert weder auf den ältesten Manuskripten, noch auf den jüngsten; sie basiert laut Bergsträßer auf dem auswendig gewussten Text und Werken von andalusischen Gelehrten. Oder schlicht auf marokkanischen Ausgaben ohne die Warš-Besonderheiten.
begegnen
Warum muss ich kotzen, wenn ich Texte von Begegnen Neuwirth lese?
Das Wort, wie sie es gebraucht, ist Jargon so wie das waidmännische "Losung".
In der Orientalistik ist es jüngsten Datums.
Bergsträßer verwendet das Wort überhaupt nicht.
Vollers verwendet es korrekt, "Die syntaktischen Unterschiede, die uns ... begegnen," "die Form, die uns im Qorân fünfmal begegnet".
1977 kannte das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache das neuwirthsche "begegnen" noch nicht. Dass es neben dem ursprünglichen reziproken
einander begegnen
mit jemandem zufällig zusammentreffen; jemanden zufällig treffen
schon das transitive
jemandem, etwas begegnen
etwas antreffen, auf etwas stoßen
und die instransitiven
widerfahren (so etwas ist mir noch nie begegnet)
sowie
auf etwas in bestimmter Weise reagieren (einer Gefahr mutig begegnen)
gibt,
reicht völlig.
Es muss nicht auch noch das neuwirthsche absolute Verb geben.
Kein Wort muss alles bedeuten.
Kein Wort sollte mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen werden,
wenn man das schon auf zig andere Weisen sagen kann.
Nur um sich vom gemeinen Volk abzusetzen,
hat Begegnen Neuwirth aus dem korrekten Gebrauch
parfumierte Scheiße gemacht.
Warum sage ich das?
Weil es nur dazu dient, Duftmarken zu setzen.
Die meisten ihrer Sudent*innen machen es ihr nach!
Wenn es nur eine Verrückte wäre, die sich interessant macht,
hielte ich meinen Mund.
Weil es aber Kohorten von Lemmingen gibt,
melde ich mich zu Wort.
Es gibt einen korrekten Gebrauch, den Dummköpfe "verfeinert" haben:
Zum andern begegnen wir einem Neutrum altenglisch brēost, altsächsisch briost und altfriesisch briast.So ist es richtig. Bei Neuwirth ist es Sch..ße.
Stefan Speck in Quora
Nach meinem Sprachempfinden ist Alles was A. Begegnen Neuwirth schreibt,
Losung.
Etwa "Die Sure ist Einheit." (zig mal).
Deutsch ist das nicht.
Die Sure ist eine Einheit
und
Die Sure ist einheitlich.
sind deutsch.
A. Begegnen Neuwirths Satz ist schlicht falsch.
Was sie sagen will:
Keine Einschübe.
Spätere Einschübe gibt es nicht.
Die Sure ist aus einem Guss.
oder ‒ ganz unbegegnenneuwirthisch formuliert ‒:
Einschübe habe ich keine festgestellt.
Einschübe sind mir nicht aufgefallen.
Und noch Mal:
Wenn man im Internet einen chronologischen Koran publiziert, übersetzt und kommentiert,
muss man eine Sure so oft abdrucken, wie sie gekürzt oder erweitert wird,
nicht nur einmal (das erste Mal),
und dort erwähnen, was später alles dazukam.
Wenn man ‒ wie Begegnen Neuwirth ‒ davon ausgeht,
dass der Koran nicht aus Versen besteht,
sondern aus Suren,
dann ist eine veränderte Sure,
neu in der Chronologie zu platzieren.
Nur so bekommen die Leser einen Eindruck von dem neuen Stadium,
dem neuen Umfeld von frisch geoffenbarten (frisch verkündeten/ neu bearbeiteten) Suren.
muṣḥaf Rušdī-Wāʿiẓ
In einem früheren
Post habe ich dargelegt, dass es von dem in Baġdād aufbewahrten muṣḥaf Muhammad
ʾAmīn ar-Rušdīs im ʿIraq, in Saʿudia und in Qaṭar zwischen 1370/1951 und 1401/1981 Nachdrucke gab.
Bis auf die Nachworte/Kolophone und die ḥizb-Einteilung sind sie alle gleich. Sie geben die Bearbeitung nach al-Wāʿiẓ wieder.
Erst jetzt habe ich erfahren, dass es 1415/1994 einen weiteren Nachdruck gab: Er beruht leider nicht auf dem Original, sondern auf dem ʿirāqischen Druck:
— alle Zusatzbemerkungen wurden getilgt — die ihmal-Zeichen wurden schon 1370/1951 getilgt,
— die hohen yāʾ barī bei jedem zehnten Vers wurden getilgt,
— ALLE Alifs-Waṣl haben jetzt ein Waṣl-Zeichen — nicht nur die vor ḥarf sākin
— Pausenzeichen und Vokalzeichen wurden genauer/richtiger platziert,
— manchmal wurde der Wortabstand vergrößert, langgezogenes-nūn gekürzt
— ḍamma-Zeichen wurden durch gedrehtes ḍamma ersetzt, wo die Prosodie ū verlangt,
— Mūsā bekam ein Lang-fatḥa,
Wer hat Bilder vom Original?
Bis auf die Nachworte/Kolophone und die ḥizb-Einteilung sind sie alle gleich. Sie geben die Bearbeitung nach al-Wāʿiẓ wieder.
Erst jetzt habe ich erfahren, dass es 1415/1994 einen weiteren Nachdruck gab: Er beruht leider nicht auf dem Original, sondern auf dem ʿirāqischen Druck:
— alle Zusatzbemerkungen wurden getilgt — die ihmal-Zeichen wurden schon 1370/1951 getilgt,
— die hohen yāʾ barī bei jedem zehnten Vers wurden getilgt,
— ALLE Alifs-Waṣl haben jetzt ein Waṣl-Zeichen — nicht nur die vor ḥarf sākin
— Pausenzeichen und Vokalzeichen wurden genauer/richtiger platziert,
— manchmal wurde der Wortabstand vergrößert, langgezogenes-nūn gekürzt
— ḍamma-Zeichen wurden durch gedrehtes ḍamma ersetzt, wo die Prosodie ū verlangt,
— Mūsā bekam ein Lang-fatḥa,
Wer hat Bilder vom Original?
Mittwoch, 11. September 2019
Ambig Bauer
Thomas Ambig Bauer ist derzeit der beim Feuilleton beliebteste Arabist.
Weil er schreibt, was gängig ist. Weil er ausreichend vereinfacht.
Ich finde, er schreibt Unsinn.
Es kommt von ambo (zwei) und iggere (treiben)
Ambig Bauer benutzt es aber meist im Sinne von vieldeutig
wo es doch zwei-triebig heißt.
Man braucht es im Deutschen überhaupt nicht,
wir können schließlich genauer sagen, was mir meinen:
zwei-deutig, un-eindeutig
zwei-gestaltig,
Zwei-Naturen, Zwi-licht, Nach-Sicht
doppel-bödig,
Zwi-tracht, zwiträchtig
mehr-deutig, viel-deutig,
Einspruch, Widerspruch, widersprüchlich,
unabgeschlossen, unentschieden, unentscheidbar, unübersichtlich
Mit Widersprüchen leben, sie aushalten,
nicht leugnen von Widersprüchen, sie nicht zukleistern.
Vielfalt, Pluralismus, Dialektik, dialektisch,
Gegen-satz, gegensätzlich, plural,
Heterogenität,
janusköpfig,
Offenheit, offen lassen,
unscharf, ungenau, vage, unklar, "irgend", "so in der Art", "oder so",
mit Toleranz, mit Spiel, mit Bandbreite, ungefähr, dehnbar, flexibel
Manchmal trifft es auch "5 gerade sein lassen",
es nicht zu genau wissen wollen, es im Dunkeln belassen,
"sowohl als auch", "jein" oder gleichzeitig.
Mal hilft es, Differenzen auszuklammern, eine Sache auf sich beruhen zu lassen,
Ungehöriges nicht zu "sehen", d.h. sie nichts aufs Tapet zu bringen.
Ambig Bauer will all dies mit éinem Wort verkleistern,
ich ziehe die Treff-Genauigkeit verschiedener Worte vor.
Ich verstehe schlicht nicht, wie ein des Deutschen Mächtiger
sagen, kann "ambig" (gesprochen ammbick) sei unverzichtbar.
Wenn ich nicht spinne, spinnt Ambig Bauer.
bedeutet: von‐zwei‐Seiten‐Treiben, Vagheit, Zögern, Zweifeln.
Aber all das meint Bauer gar nicht; er meint Vieldeutigkeit und nur wenn „Ambiguität“ gar
nicht seine lateinische Bedeutung hat, sondern nur ein hochtrabende Verkleidung
von „Vieldeutigkeit“ ist, muss man Bedeutung weiter fassen.
Muss man denn Latein schreiben, wenn man Deutsch denkt?
Unnötig auch einen „coitus pro natura“ zu erfinden, die Scholastiker meiner römisch‐katholischen Kirche kennen nur einen „coitus naturaliter“, aber Bauer entstammt bestimmt einer alternativen römischen Kirche.
Ich verstehe auch seine Schwierigkeiten, den grünen Stecker in das grüne Loch und den roten in das rote zu stecken, nicht – seine Ausführungen über drei Gebrauchsanweisungen, zwei Löcher und einem Stecker (54‐6) sind in meinen Ohren breit getretener Quark – vielleicht sind sie ja für andere erhellend.
Ginge es ihm nicht um Hochgelehrsamkeit sondern um Einsichten, dann kämen wir mit Offenheit, Vielfalt, Sowohl‐Als‐Auch, Pluralismus, Heterogenität, mit‐Widersprüchen‐Leben, Unabgeschlossenheit, Mehrdeutigkeit, „kommt drauf an“, „5 gerade sein Lassen“, Streit‐Aushalten weiter als mit „Ambiguität“. Aber dann gelänge es ihm weniger gut, dem Leser bis kurz vor Schluss weiszumachen, dass Islam gut und Westen schlecht sei. Als Skeptiker habe ich mich gleich gefragt, ob das denn wirklich so sei, dass der moderne Westen „klar und eindeutig“ sei und deshalb Bonaparte die Mamelucken besiegt habe. Ich denke die vielen, relativ preiswerten, schnell nachzuladenen Schusswaffen spielten dabei eine gewisse Rolle und dass Standardisierung Massenfertigung erleichtert. Dass die Muslime Dinar und Dirham standardisiert haben, hat den Handel erleichtert. Aber schon der technische Fortschritt des Westens war weniger Folge von „klar und eindeutig“ wie Bauer meint, als von „trial and error“, Vorläufigkeit, Nichtabgeschlossenheit; Besser‐Machen (ohne auf das einzige wahre Optimum zu warten) brachte den Westen nach vorn, nicht „Ornament ist Verbrechen“, wie Bauer Adolf Loos falsch zitiert <dessen Manifest heißt Ornament UND Verbrechen>, sonst hätte es unter Wilhelm II keinen Fortschritt bei der Stahlproduktion gegeben, sondern erst in den 1920er Jahren.
Was Bauer hier schreibt entspringt nicht eigenem Studium oder eigenem Denken, sondern stammt von Herren, die vor allem Frankreich studiert haben. Hass auf Andersdenkende (Bartholomäusnacht und Henri IVs Ermordung) sind aber nicht Bedingung für Meter, Gramm, Liter und Nullmeridian. Nicht Louis' Vertreibung der Hugenotten (Edikt von Nantes) sondern Colberts Schiffskanäle und die Abschaffung der Binnenzölle steigerten Frankreichs Bruttosozialprodukt. In Deutschland brachten Zollunion, Mittellandkanal, Reichsmark, und MEZ Produktionszuwachs auch ohne konfessionelle Homogenisierung und Zentralisation. Nicht die „Preußische Union“ von Lutheranern und Calvinisten machte Preußen reich und „modern“ sondern die katholischen Kohle an Ruhr, Saar und in Schlesien. Bauer muss ja nicht historischer Materialist werden, aber sein Überbaugedusel ist schon sehr idealistisch.
Wenn er schreibt, dass die „Ökonomie besonders ambiguitätsintolerant“ (58) sei, dann hat er sich nichts dabei gedacht. Nach meinem Verständnis ist es genau umgekehrt: der Markt lebt davon, dass Samsung und Apple, Windows und MacOS, BMW und Daimler nebeneinander existieren und nicht einer einzig recht hat. Nimmt man den Wettbewerb von FAZ und Süddeutscher, von Grünen und Piraten dazu, sieht man, dass „der Westen“ doch nicht so rigide und unflexibel ist, wie Bauer ihn darstellt. Erst kurz vor Schluss räumt er ein, dass „polyphone Musik, ... Opern ... und Demokratie“ Leistungen des Westens seien, die nicht „klar und eindeutig“ seien; doch seien Erstere marginal und die Demokratie „von Hekatomben von Opfern gesäumt“ (403). Ich vermute, dass sich auf diesen Seiten Diskussionen mit Menschen niedergeschlagen haben, die mehr vom Westen verstehen als Bauer, dass er mit diesem Eingeständnis aber schon die Grenze seiner Einsicht in Positives am Westen erreicht hat. Meiner Ansicht nach wäre das Buch viel besser, wenn es mehr hätte von Dingen, die Bauer gut kennt, und weniger über den Westen.
Bauer schreibt immer wieder von den vier Rechtsschulen, obwohl er andere als die vier erwähnt, u.a die von Abu Thaur (171); dabei passiert ihm ein Fehler: er spricht von „dem Ẓāhiriten Abu Dāwūd“ (170). Erstens heißt der Mann D., nicht Abū D., zweitens ist das der Gründer der Schule, die deshalb auch Dāwūdīya heißt. Bei zehn nebeneinander existierenden Schulen von Zweideutigkeit zu sprechen, scheint mir so schief wie bei 28 Koranlesarten. Bauer meint mit „ambi“ gar nicht „ambi“ sondern „pluri“ oder „poly“; warum sagt er nicht, was er meint?
Qirāʾāt
Der Buchdruck hat das Bewußtsein der Lesungen gestärkt.
Die Ausgabe von 1342/1924 (!) hat sich nie und nimmer "in der gesamten islamischen Welt durchgesetzt":
1.) Selbst in Ägypten, wo sich die neue Orthographie dank staatlichen Drucks durchsetzte, war die Ausgabe der Amīriyya immer eine Seltenheit. Vor zehn Jahren lagen davon noch unverkäufliche Exemplare in den Buchläden. Ausgaben auf 522 Seiten verkauften sich besser: erst die von Muṣṭafā Naẓīf Qadirġalī, nach 1975 die von Muḥammd Saʿd Ibrāhīm al-Ḥaddād geschriebene, nach 1976 auch der ganz schlicht gesetzte Muṣḥaf al-Azhār aš-Šarīf, heute wieder al-Ḥaddād/Šamarlī sowie ʿUṭmān Ṭāhā auf 604 Seiten.
Zweitens hat sich erst die Orthographie der Ausgabe von 1952 außerhalb Ägyptens durchgesezt,
in der Fassung von ʿUṭmān Ṭāhā ‒ also ab 1977 ‒ ganz allmählich,
Drittens nur in Ostarabien, weder in Persien, noch in Marokko, weder in der Türkei (oder bei den Türken in Deutschland), noch bei der größten Gruppe der Muslime, den Indern, Pakistani, Bengalen und Indonesiern.
Es ist auch kein historischer Zufall, dass das osmanische Reich und das Moghulreich die ḥanafitische/kufische Rechtsschule annahmen, weil diese Reiche (für das osmanische zumindest über lange Zeit) nur eine Minderheit von sunnitischen Einwohnern hatten und deshalb die Rechtsschule wählen mussten, die die Andersgläubigen am wenigsten diskriminiert. Und so wie die Mālikiten letztlich eine Lesung aus Medina bevorzugen, so die Ḥanafiten eine aus Kufa. Ob das entscheidend war oder die Tatsache, dass ʿĀṣims Lesung näher an der Standardaussprache des Arabischen ist als andere Lesungen, dass man also auf weniger Widersprüche zwischen den Grammatik‐Büchern und den Koran‐Vortragsbüchern stößt, und deshalb gerade Türken, Moghulen, Perser, Inder und Indonesier sich für die leichteste Lesung entschieden, kann offen bleiben.
Nebenbei: Bevor die „Marokkaner“ die Lesung nach Warsch von den „Tunesiern“ übernahmen, hatten sie nach Hamzah aus Kufa gelesen. Auch diese inner‐maghrebinische Vereinheitlichung hat nichts mit dem Buchdruck zu tun.
Es ist aber nicht bloßer Zufall und der Buchdruck tat wenig zum Zurückdrängen der anderen Lesarten. Bauer müsste nachweisen, dass vor 1830 (dem Beginn des Drucks von Koranen in der islamischen Welt) der ʿĀṣim‐Anteil geringer war als danach, und nach 1925 nochmal größer als davor.
Was man leicht zeigen kann, ist, dass CD, DVD, Internet, Apps und Buchdruck in den letzten 30 Jahren mehr zur Verbreitung von anderen Lesarten als Ḥafṣ nach ʿĀṣim getan haben als alle Religionsschulen in den 1000 Jahren davor.
Die Kultur der Ambiguität, das Buch ...
... ist ein Märchenbuch, voller Lügen, schwarz-weiß statt "ja-aber"-grau.
Obwohl es laut Untertitel "Eine andere Geschichte des Islams" ist, geht es in ihm gar nicht um den Islam, sondern nur um zwei Varianten, zwei von hundert:
— um den städtischen, sunnitischen Gelehrtenislam Ostarabiens (Ägyptens, Syriens, des Irāqs), nicht des frühen, sich erst bildenden Islam, sondern um den "postformativen", "vorkolonialen",
— den "postkolonialen", die Antwort auf das Vordringen Europas, also insbesondere den Wahhabismus.
Doch die meisten Deutschen wissen so wenig über Islam, dass sie daraus viel lernen können:
1) Der Nahe Osten war weder rein islamisch, noch durch und durch religiös. Die Herrscher waren nicht Befehlsempfänger religiöser Würdenträger; Kunst und Wissenschaft waren keine Anhängsel der Religion.
2) Der mittelalterliche Islam war nicht dogmatisch, unduldsam und prüde.
Er hat weder ethnische Säuberungen organisiert noch religiöse Minderheiten vernichtet.
— Islamismus ist keine Rückkehr zum traditionellen Islam, sondern ein Versuch, den Westen mit dessen Methoden zu schlagen.
In Kapiteln über Koran, Hadith und Recht zeigt Bauer, dass Gottes Buch, das Beispiel des Gesandten und Gottes Regeln zwar absolute Geltung beanspruchen, aber niemand wissen kann, was Gott gemeint hat und welche "Gesandtensprüche" wirklich von ihm stammen, deshalb die Schariʿa gar nicht angewendet werden kann.
Kernthese über den westlichen Menschen
Ambig Bauers Kernthese: «Eine beträchtliche Angst vor ihrem eigenen Körper begleitet die Menschen des Westens seit Jahrhunderten. ... [Die daraus resultierenden] ambivalenten Gefühle [können] zu starker Ambiguitätsintoleranz führen.» Durch Imitation des Westens sinke seit 200 Jahren im Nahen Osten die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. ‒ Während also im Westen der Leib den Unterbau für Kultur und Mentalität bilde, gestalte im Nahen Osten westliche Diskurshegemonie diese um.
Thomas Ambig Bauer ist Philologe; wenn er arabische Texte referiert, ist er gut, wenn es um Gesellschaft und Wirtschaft geht, ist er schlecht. Er schreibt: Juden und Christen fand man in allen Dörfern, ihnen standen außer dem Militär alle Berufe offen. Ersteres stimmt nicht und Letzteres ist nicht nur Berufsverbot, sondern elementare Entrechtung: Juden und Christen durften keine Waffen tragen, waren wie Frauen und Kinder schutzbedürftig. Ich glaube auch nicht, dass sie Qadi oder Muezzin werden konnten. De facto waren sie auf wenige Berufe beschränkt, etwa Seifensieder, Silberschmiede, Musiker, Hausierer, Photographen, Steuereintreiber. Von ethnischer Arbeitsteilung hat Bauer nie gehört. Immerhin kommt «Arbeitsteilung» vor, doch damit meint er nicht Spezialisierung in Handwerk, Handel, Landwirtschaft, sondern «Arbeitsteilung» zwischen Juristen, Sufis, Theologen, Hadithexperten.
Er schaut durch die rosarote Brille wenn er von Entdeckungsreisen in Afrika schwärmt, aber die Sklavenjagden nicht erwähnt. Statt dessen: «Die soziale Mobilität war geradezu schrankenlos ... Im Nahen Osten konnte man tatsächlich vom Sklaven zum Fürsten werden.»
Es war aber nicht so, dass erst ein Bäcker Herrscher war, sein Nachfolger ein Dichter, darauf ein Sklave folgte, der von einem Stammeskrieger abgelöst wurde. Meist herrschten Geschlechter. Auch die 500-jährige Militärdiktatur, die Ägypten regierte, heißt in den arabischen Quellen «Dynastie/daula»; in der Zeit waren alle Herrscher Ex-Sklaven, aber niemals Küchen-, Harems- oder Plantagensklave, sondern ausschließlich Generäle. Nur Sklaven des Sultans oder eines hohen Beys konnten Sultan werden. Das Verhältnis der Sklaven zu ihren Händlern war weit besser als das der heutigen Wirtschaftsflüchtlingen zu ihren Schleppern. Eltern verkauften Kinder, damit diese es besser hätten; sogar freie Jungs versuchten, als Sklaven in die Rekrutenanstalten zu gelangen.
Was die Sexualität betrifft zeichnet Bauer folgendes Bild: Mit Sex ging man «locker und ungezwungen» um, Verbote waren rein theoretisch. In tausend Jahren wurde niemand wegen einvernehmlichem Sex zwischen Männern verurteilt. «In der islamischen Sexualethik wird Sex als etwas uneingeschränkt Positives gesehen. Der Geschlechtsverkehr diene, so al-Ghazäli, erstens dazu dem Menschen einen positiven Vorgeschmack auf das Paradies zu geben, und zweitens, für den Fortbestand des Menschengeschlechts zu sorgen — man beachte die Reihenfolge!»
Nun, leider ist das falsch, sogar die Reihenfolge;
in der Iḥyāʾ ʿUlum ad-Dīn (al-Ghazālīs Hauptwerk) kommen weder «Geschlechtsverkehr» noch «Menschen» vor; es geht um «Männer» und «das Bestellen/al-ḥirāṯa» (d.h. Pflügen und Besamen) der Ehefrauen. Statt «Fortbestand des Menschengeschlechts» steht im Original «Söhne» und dort geht es auch darum, durch Koitus die muslimische Gemeinde zu vergrößern. Die Lust stellt al-Ghazāli als ein Werkzeug des Satans vor und als Trick Gottes:
Der Mann bekommt einen Vorgeschmack auf Paradiesfreuden, unterwirft sich deshalb völlig, um in den Himmel zu kommen. Al-Ghazāli gelingt es sogar trotz des Vorbilds des Gesandten, der bekanntlich kleine Mädchen, Frauen und Witwen heiratete, alles andere als ein «uneingeschränkt positives» Urteil abzugeben: Nur in den ersten 200 Jahren des Islam seien die Frauen züchtig und tüchtig gewesen, heute sei das anders. Ganz wie Paulus stellt al-Ghazāli die Ehelosigkeit über die Ehe.
Ambig Bauers Behauptung, dass das Verbot gegen Sex außerhalb von Ehe und Konkubinat «gültig und nicht gültig» sei, dass diese «Gesetze undurchführbar» seien und dass man mit ihnen «lax umgegangen» sei, ist Unsinn. Er selbst gibt an, dass im Gesetz selbst hohe Beweishürden errichtet wurden. Das Verbot war absolut gültig, doch der Vollzug der Strafe war fast nur bei einem Geständnis möglich. Wenn er aber meint, dann sei das Gesetz «irrelevant», zeigt er, dass er nichts kapiert hat.
Es ist ja nicht nur so, dass wir wenig über Verurteilungen wegen «einvernehmlichen Sex zwischen Männern» wissen, — wir wissen überhaupt nichts darüber — im Gegensatz zu Vergewaltigungen. Es gab entweder keinen einvernehmlichen Sex zwischen Männern oder man hielt es geheim, weil man sich schämte und Angst hatte.
«Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt durch sein Leugnen die Gültigkeit des Verbots; solch deviantes Verhalten wird toleriert. Wer sich non-konformistisch verhält, sich also um ein Verbot einfach nicht kümmert, es für sich außer Kraft setzt, ohne seine allgemeine Gültigkeit anzugreifen, wird in Frieden gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine Gültigkeit bestreitet, muss zur Raison gebracht werden. Denn der ist ein Ungläubiger, der etwas erlaubt, was in der Religion des Propheten verboten ist» (A. Schmitt: Liwat)
«Im vorkolonialen Nahen Osten war es selbstverständlich, dass schöne junge Männer begehrens­wert sind». Belege dafür gibt es nicht. In den Tausenden von Liebesgedichten in denen es nicht ausdrücklich um Frauen geht, wird nie männliche Schönheit besungen, nie Waschbrettbauch, kantiges Kinn, ... statt dessen weite Hüfte, Wackelarsch, trippelnder Gang, Babyspeck ... Auch, wo mit dem Maskulin keine Frau gemeint ist, was die arabische Grammatik erlaubt, geht es nie um Virilität; die Dichter wollten den Knaben kokett und unterwürfig, zart und gefügig. Mit Homo-Erotik, also mit Begehren eines Gleichen, hat das nichts zu tun.
Thomas Bauer behauptet, in den «Bartwuchsepigrammen» ginge es um kräftige Bärte; es ist aber immer von zartem Flaum die Rede. Er behauptet, der Bart werde in Kauf genommen, weil der «Jüngling ... noch immer süß» sei.
Da steht aber, dass er noch immer Schönes gewähre, nämlich dass er sich penetrieren lässt.
Im nächste Gedicht werde «der Bartwuchs als etwas rundum Positives dargestellt»:
"Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, der zieht nicht fort, wenn Frühlingsblumen sprießen."
Es geht aber nicht darum, dass die Gegend jetzt rundum schön und damit auch der Bart schön sei.
Vielmehr sagt der Dichter: Wer in einen unbehaarten Anus reingelassen wurde, verzichtet auf derlei Freuden nicht wegen zarter Frühlingshärchen, die jetzt rund um den Anus sprießen.
Merkwürdig auch Bauers «Fortleben»-Behauptung. Gewöhnlich nimmt man an, dass die Muslime nur die nützliche Literatur der Griechen rezipierten: Medizin, Philosophie, Mathematik und Astrologie, dass sie aber von Homer, Sophokles und Sappho gar keine Kunde hatten. Bauer schreibt, mit den letzten Flaumgedichten ende eine «zweitausendjährige Tradition, denn es ist schwer vorzustellen, dass das arabische apologetische Bartwuchsepigramm nicht die Tradition seiner antiken Vorläufer fortsetzt.» Im Gegenteil: Ohne Informationen über Griechisch-Kenntnisse bei arabischen Dichter und Manuskripten mit griechischer Lyrik im Besitz islamischer Gelehrter kann ich mir Bauers «Fortsetzung» nicht vorstellen.
Insgesamt malt er ein rosiges Bild vom vorkolonialen Nahen Osten, in dem Sklaven zu Prinzen wurden, und Päderasten ihrer Lust frönen konnten ‒ Frauen und Penetrierte kommen aber nicht zu Wort. Gewiss, «bei uns» kann man nicht nur durch Tat und Wort sündigen, sondern schon in Gedanken, aber dass «der Islam» einfach nur sinnenfroh gewesen sei bis die Kolonialherren ihn verdarben, stimmt nicht. Auch Muslime sprachen von dunklen Trieben, und wenn «im Islam» das Begehren des Mannes weniger verteufelt wurde als «bei uns», so verteufelten Muslime die Frau umso mehr. Und bei der Verteufelung der Frauen zieht sogar manch lockerer Sufi mit strengen Hambaliten an einem Strick.
Die Idee, dass die Verachtung der Penetrierten, mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zu tun hat, kommt Bauer nicht.
Bei Ambig Bauer kriegen alle Reaktionen auf die Moderne ihr Fett ab; bei ihren jeweiligen Ahnen ist er jedoch parteiisch: Während die «Helden» der Reformer, die «rationalistischen» Mu'taziliten als dogmatisch und rigoros getadelt werden, schimpft er mit ihren ‒ genauso dogmatischen und rigorosen ‒ Gegnern, den Hambaliten, nicht. (Übrigens besteht die «Rigorosität» der Mu'taziliten darin, dass bei ihnen auch Muslime, wenn sie schwer sündigen und nicht bereuen, in die Hölle kommen und nicht nur Juden, Christen und Heiden.) Das gehört zu Bauers Strategie, den frühen Islam ‒ in dem Theologie noch diskutiert wurde ‒ und den späten ‒ die Antworten auf die Kolonisatoren ‒ gegenüber dem dazwischen ‒ in dem das Dogma unhinterfragt war ‒ runterzumachen.
Eigenartig, dass Bauer zu dem Thema die Arbeiten von Fachleuten völlig unerwähnt lässt, (Khaled el-Rouayheb, Before Homosexuality in the Arab-Islamic World 1500- 1800 und Dror Ze'ev, Producing Desire. Changing Sexual Discourse in the Ottoman Middle East), die das Gebiet genauer erforscht haben als Bauer; auch die Arbeiten von Everett K. Rowson und Frederic Lagrange bleiben unerwähnt.
eine Mentalitätsgeschichte?
Ob er wirklich eine Mentalitätsgeschichte des Nahen Osten vom 10. bis zum 19. Jahrhundert geschrieben hat, wie er glaubt, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob man von den Abhandlungen der städtischen Gelehrten auf die Mentalität der Bauern schließen kann – so wenig wie man von William von Ockhams Schriften auf die seelische Verfassung bayrischer Bauern, und von denen eines Erasmus auf die von Rheinschiffern schließen kann.
schlicht falsch
Wenn ich kritisiere, dass Bauer sich seinen Islam zurechtlegt, indem er fast alle Islame ignoriert – sowohl im Sinne von „nicht kennt“ wie im Sinne von „übergeht = dem Leser vorenthält“, dann geht es nicht nur um Faulheit. Bauer tut so, als sei der Muslim vor der Ansteckung durch das moderne Europa gar nicht in der Lage gewesen, Eindeutigkeit zu verlangen. Zu solchen Ausführungen über den Koran, wie sie saʿudische Gelehrte heute produzieren, sei der von Europa noch nicht verdorbene Muslim nicht in der Lage gewesen, für diesen sei Vieldeutigkeit geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Nun schreibt Aḥmad b. Muḥammad as‐Saiyārī im Kitāb al‐qirāʾāt über den Koran: bal huwa ḥarf wāḥid min ʿindi wāḥid nazala bihi malak wāḥid ʿalā nabī wāḥid (er hat éine Lesart, kommt von Einem, ist éinem Propheten durch éinen Engel geoffenbart); Saiyārī lebte aber tausend Jahre vor der Bauerschen Verschwörung des Westens, den Islam auf Linie zu bringen.
Die Belege, die Bauer von seinen Gelehrten bringt, sind höchst aufschlussreich; mit dem (vormodernen) Islam darf man sie aber nicht verwechseln.
Islamisierung des Islam
Seitenlang wütet Bauer – zu Recht – gegen die „Islamisierung des Islam“, was zweierlei meint: einmal, dass man die islamische Religion theologisiert, sie paralleler zum Christentum macht als sie ist, spielt doch in ihr das Dogma eine weniger wichtige Rolle, zum andern, dass man die Gesellschaft religiöser macht als sie ist. Und in diesem Zusammenhang schimpft er gegen die Dummheit, „Islam“ und „islamistisch“ zu benutzen, wo die Religion gar nicht gemeint ist. Er selbst macht dies leider auch immer wieder – nicht nur im Titel des Buches. Ich selbst behelfe mich damit, dass ich „muslimisch“ eher für religiöse Aspekte nehme und „islamisch“ für die Zivilisation benutze. Er zetert über Islamexperten, die gar nicht über die Religion reden sondern über alles Mögliche im nahen Osten, ohne zu erwähnen, dass das einer Binnensicht entspricht: Die Muslime nennen die gesamte von Muslimen beherrschte Welt das „Haus des Islam“; wenn etwas davon an die Fehlgläubigen verloren geht, sind sie gekränkt und in ihrem Haus ist ein christlicher Präsident unvorstellbar. Bauer übersieht auch, dass Religion nicht nur Dogma, persönlicher Glaube, offizieller Ritus, Zauberei/Hexerei, Versenkung und Verzückung ist, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Egal wie unfromm einer ist, wenn er Alawit, Jude, Druse, Christ ist, wird er im Dār al‐Islām anders behandelt als ein Rechtgläubiger – und (deshalb?) handelt er auch anders.
Bauer kämpft gern gegen Pappkameraden: Er tut so, als hielten die Orientalisten die Medizin des Nahen Ostens für religiöse Medizin, obwohl sie doch völlig unreligiös sei, nämlich die alte hippokratisch‐galenische. Acht Seiten später – wenn von Medizin nicht mehr die Rede ist – schreibt er, dass im vorkolonialen Nahen Osten „auf allem ein religiöser Feinstaub“ (201) liege. Es gebe Religion gar nicht als eine eigene Sphäre, alles sei irgendwie religiös. Hätte er das eingangs eingeräumt, hätte er sich viel Schaum vorm Mund sparen können. So gibt es auch gar nicht die von ihm behauptete harte Trennung (195: wenig Ambiguitätstoleranz) zwischen „griechischer“ und „prophetischer“ Medizin. Auch die muslimischen Praktiker der griechischen Medizin haben keinen Aderlass gemacht, ohne die Basmala zu murmeln; auch sie haben ihr Behandlungszimmer mit Kalligraphien der āyāt aš‐šifāʾ geschmückt. Und wenn man sich die Bücher der prophetischen Medizin anschaut, so gibt es – besonders bei Ḥambaliten – welche mit viel Hildegardmedizin (Bauers Analogie) aber auch solche, die außer ein paar frommen Sprüchen die übliche Lehre und Heilmethoden bringen. Die Trennung von weltlicher und religiöser Medizin war so streng nicht.
Kapitelendnoten
Für den Leser, der Bauers Gedankengänge nachvollziehen will, ist das Buch eine Unverschämtheit. Der Autor schreibt: „Der Leser sei versichert, daß Anmerkungen auf nichts verweisen als auf Quellen‐ und Literaturangaben ... Ihm entgeht also nichts inhaltlich Wichtiges, wenn er eine entspannte Lektüre permanentem Nachschlagen vorzieht.“ (25)
Oft bieten die Kapitelendnote keine Primärquelle für die Behauptung, sondern irgendeinen Feuilletonisten, der Bauers Meinung schon früher vertreten hat. Ob man dort Quellen findet, weiß man nicht. Bei arabischen Texten gibt Bauer die Seite nach einer beliebigen Ausgabe an. Würde er zusätzlich kitāb, bāb, faṣl angeben, könnte man die Stelle in jeder Ausgabe finden. Noch praktischer wäre ein Originalzitat. Aber weil fürs große Publikum geschrieben, verzichtet Bauer auf die Nachvollziehbarkeit. Ich kann nicht glauben, dass Fußnoten einen so großen Abschreckungseffekt haben. Dann könnte man ja auch gleich auf diakritische Punkte in der Umschrift verzichten.
Und Bauer hält sich nicht mal an seine Versicherung. Der folgende Satz ist doch wohl weder eine Quellen‐ noch eine Literaturangabe:
„Die Begriffe »Homosexualität« (Erstbeleg 1869) und »Heterosexualität« (Erstbeleg 1880) gehen auf Karl Maria Kertbeny (1834‐1882) zurück“ (421)
Das ist (selbstverständlich) falsch und zeigt, dass Bauer jeden Unsinn glaubt. In der deutschen Wikipedia ist sowohl unter „homosexuell“ wie unter „Karl Maria Kertbeny“ der Erstbeleg für beide Begriffe abgebildet. „Natürlich“ hat Kertbeny sich die Begriffe gleichzeitig ausgedacht.
A propos „gleichzeitig“: Im Theoriekapitel schreibt Bauer, dass wenn „in einer Stadt“ zur gleichen Zeit eine „Bevölkerungsgruppe“ eher zum Heiler geht und eine andere zum Mediziner, dann sei das nicht „gleichzeitig“ – „gleichzeitig“ sei nur, wenn die gleichen Menschen beide Heilmethoden akzeptieren. Abgesehen davon, dass dann viele seiner Beispiele aus dem nahöstlichen Bürgertum seine Grundthese gar nicht stützen, denn sehr viele Ḥambaliten akzeptierten weder Schiiten noch Sufis, finde ich Definitionen, die dem Grundsinn des Wortes widersprechen, nicht Erkenntnis fördernd.
Lust
Weil das Buch sich an das große Publikum wendet, greift Bauer oft Kollegen an, ohne deren Namen zu nennen, oder er schreibt von anderen ab, ohne irgendwie anzudeuten, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Zum Komplex mann‐männliche Sexualität und Erotik erwähnt er nur Massad und Klauda, von denen einer gar keine Quellen studiert haben kann, weil er kein Arabisch kann. Dass Everett K. Rowson und Arno Schmitt seit über zwanzig Jahren Grundlegedes dazu geschrieben haben, bleibt genauso unerwähnt wie die Arbeiten von Frédéric Lagrange, Dror Ze’evi und Khaled el‐Rouayheb; letztgenannter hat viel genauer erklärt, wieso verschiedenartige Diskurse zu dem, was wir als éine Sphäre ansehen auf arabisch nebeneinander existieren.
Bemerkenswert auch, dass Bauer, den Hauptgedanken der von ihm erwähnten Bücher nicht versteht: Dass es nämlich im „vorkolonialen“ Denken und Schreiben der Araber weder den Begriff noch das Wort „Homosexualität“ gibt, dass also bei ihnen der Bereich des Lebens, den wir heute als „Sexualität“ bezeichnen, anders strukturiert war.
– Während im modernen westlichen Denken ein Mann einen Mann lieben kann, die miteinander Sex machen, kann im traditionellen, mediterranen, patriarchalischen Denken ein Mann nur mit einem Nicht‐Mann (Tunte, Transvestit, Knabe, Mädchen, Frau) Sex machen (die Unzahl von Verben sind alle transitiv: schlagen, besteigen, reiten, ficken…).
Für zāniya benutzt Bauer das deutsche „Ehebrecherin“ (282), obwohl weder die zāniya noch ihr Partner verheiratet sein müssen, demzufolge keine Ehe brechen – und aus dem Text, wie Bauer ihn uns vorstellt – geht auch nicht hervor, dass die zāniya eine Ehebrecherin gewesen sei. Zugegeben: „Geschlechtsverkehr mit einer Person, mit der man dazu nicht das Recht hat“ ist deutlich länger und holpriger als „Ehebruch“ aber wenn man genau sein will, darf man nicht schlampen.
Bauer bringt das Kunststück fertig, Sexualität als kulturelles Konstrukt aufzufassen („es ist keineswegs selbstverständlich, alle Handlungen und Emotionen, die direkt oder indirekt mit den Geschlechtsorganen verbunden sind, auch untereinader verbunden sind und ein eigener Bereich der menschlichen Persönlichkeit“ bilden), aber Homosexualität als kulturübergreifend darzustellen. Das erreicht er dadurch, dass er zwanzig Mal von einvernehmlichem Sex zwischen Männern spricht, auch von Liebe zu einem Jüngling, obwohl wir doch für den Nahen Osten nur von Vergewaltigungen und Päderastie Kenntnisse haben. Dass Sexualität im Westen als „isoliert von den übrigen Gefühls‐ und Handlungsbereichen“ und „streng getrennt“ (273) angesehen wird, kann ich nicht finden. Noch seltsamer erscheint mir, dass nach Bauer „der Westen“ die Sexualität bewusst geschaffen habe, er spricht nämlich von dem „Projekt [des Westens], eine von allen Bereichen menschlichen Erlebens geschiedene Sphäre der »Sexualität« zu etablieren“ (274). Richtig ist, dass man ein Kraulen der Brusthaare und eine Vergewaltigung zwecks Erniedrigung nicht in einen Topf werfen muss, aber komisch finde ich, dass Bauer nur zwischen Sexualität und Liebe zu unterscheiden weiß; nicht mal zwischen „jemanden für begehrenswert halten“ und „jmd. begehren“ macht er einen Unterschied. Gewiss, um 1965 macht sich ein Mann in der BRD schon verdächtig, wenn er die Schönheit eines Jünglings oder Mannes bemerkte, aber dies ist noch lange kein Begehren oder – was für Bauer das Gleiche ist – sich in einen Jüngling oder Mann Verlieben. Diese Blindheit für Aspekte und Grade der Liebe ist umso bemerkenswerter, als Muslime darüber umfangreiche Bücher verfassten.
Da es Bauer nur darum geht, herauszuarbeiten, dass der Westen den Nahen Osten moralisch verdorben habe, interessiert ihn nicht, ob es zwischen den Liebestheorien der islamischen Gelehrten und der westlichen Denker bezeichnende Unterschiede gibt. Ich jedenfalls halte es für signifikant, dass im Nahen Osten einseitig gedacht wird (ich liebe x, ich begehre x, ich umwerbe x, ich ficke x), im Westen gegenseitig (ich will, dass x mich begehrt, ich sehne mich danach, von x wahrgenommen zu werden, ich will mit x ficken). In der reifen, westlichen Liebe oszillieren die Rollenzuschreibungen, da liebt man/frau nicht nur ein Objekt, sondern man identifiziert sich zweitweise mit Anteilen des Andern, man ist (wenigstens phasenweise) aktiv und passiv. Als historischer Materialist bin ich der Ansicht, dass diese Art Liebe zu denken erst entsteht, wenn Frauen auch im Betrieb und der Politik Chef sein können. Ich habe in meiner Besprechung in inamo darauf hingewiesen, dass Bauers Kronzeuge für sinnenfrohen Sex, der Imām Ghazālī, genau wie Paulus die Askese über die Ehe stellt; Ibn Qaiyim al‐Ġauziya weist eine andere Parallele mit dem Gründer des Christentums auf: Arschficken als Ursache und Folge des Abfalls vom Glauben. Wer Islam und Christentum vergleicht, sollte beides studiert haben; nach meinem Eindruck hat Bauer das eine gar nicht und das andere recht selektiv studiert. Er hat bei diesem Teilstudium vieles entdeckt. Leider schreibt er auch über die Bereiche, die er nicht studiert hat. „Kapitalistisches Konkurrenzdenken (kKD) und einfühlsame Freundschaften sind aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (275)
Mit keinen Wort erklärt Bauer warum gerade das kapitalistische KD mit Freundschaft schlecht zusammen geht oder auch nur wodurch sich kKD von anderem KD unterscheidet. Vorher schreibt er, dass der Araber „als »agonaler Mensch« charakterisiert werden [muß]. Neben den bewafneten Kampf der Sippen und Stämme trat der Wettkampf in der Jagd, im Wettrennen und im Wettschießen. Noch wichtiger war der aber Wettkampf der Dichter“ (254). Der Araber ist also laut Bauer von Kampfdenken durchdrungen. Warum verträgt sich arabisches KD mit Freundschaft, aber nicht kKD?
Bauers Behauptung der Bürger habe die Homosexualität erfunden, um als ganz und gar heterosexuell dazustehen (276), leuchtet mir nicht ein; ich gehe davon aus, dass es in der fraglichen Zeit (grob 1850‐1950) im Bürgertum mehr Homosexuelle gab als in der Arbeiterklasse. Schön auch die Behauptung, dass im 19. Jahrhundert Kapitalismus, Kolonialismus und Psychoanlayse „triumphierten“ (276), obwohl letztgenannte erst im 20. Jhd. entstand. Und dann kommt eine Formulierung, die „die amerikanische Forscher“ der Stammtische lässig toppt: „Es ist mittlerweile gut nachgewiesen, daß die europäische Konstruktion der Sexualität mit dem Imperialismus in einem innigen Wechselverhältnis steht.“ (277) – sorry, „innig“ habe ich reingeschmuggelt, aber sonst ist es doch eine Leeraussage; steht nicht alles mit jedem in einem Verhältnis? „Die Macht des Westens griff nun auf jene fernen, exotischen Welten zu, ... wo ein Sex blühte, der die westlichen Ordnungen des Sexes gefährlich ins Wanken brachte.“ (277) Der Imperialismus schafft also Imperien, um die westliche Ordnung des Sexes vor dem Umfall zu schützen. Da sehe ich noch andere Interessen.
Bauer spricht von „Ambiguitätsdimension“ von Sex bzw. Liebe (278), wo er nach seiner eigenen Definition von Ambivalenz sprechen müsste (38, passim).
„Die wichtigste Ursache für Ambiguität ist die Pluralität der Diskurse“ (268f.) Entweder habe ich Bauer überhaupt nicht verstanden, oder das stimmt so nicht.
Gewiss, verglichen mit heutigen Salafisten waren die Denker des klassischen Islam Rheinländer. So wie katholische Bischöfe am Niederrhein den Kohlenklau für den Eigenbedarf freigaben und den Gläubigen erlauben, gegenüber den Ämtern (Jobcentern) falsche Angaben zu machen, solange Freibeträge und Regelsätze zu niedrig sind, so galt auch in muslimisch geprägten Nahen Osten „leben und leben lassen“, „Fünfe gerade sein lassen“ und „beide Hühneraugen zudrücken“. Oder anders gesagt: Wie der Rheinländer und der italienische Südländer, wusste auch der Levantiner, dass das Gesetz „auf dem Papier steht“, „das Leben aber das Leben“ ist. Aus diesem Blickwinkel ist der von Bauer konstatierte Abgrund zwischen Köln und Kairo gar nicht so tief und nicht so weit.
Merkwürdig auch, dass Bauer die Spannung zwischen zwei wichtigen Grundsätzen völlig übergeht. In tausenden von Büchern stößt man auf al‐ʾamr bi’l maʿarūf wa an‐nahy ʿan al‐munkar (das Gute befehlen und vom Bösen abhalten), womit in Saʿudi‐Arabien die Religionspolizei gerechtfertigt wird. Im klassischen Islam stehen diesem – unbestrittenen Gebot – gleich drei Regeln gegenüber: die trivialste ist die Erkenntnis, dass es nicht großen Mutes bedarf, einen Schwachen auf seine mangelnde Frömmigkeit hinzuweisen (über die der sich ohnehin klar sein dürfte), dass es also darum geht, dem Mächtigen, der seine Kompetenzen überschreitet, in die Schranken zu weisen. Das zweite Gegenmittel ist eine der wichtigsten Tugenden überhaupt: ṣabr (Geduld), was nicht nur Hartnäckigkeit/Beharren, sondern auch Duldsamkeit gegenüber Sündern einschließt. Schließlich gilt: Was Gott mit dem Schleier (saṭr) bedeckt hat, soll der Mensch nicht aufdecken. Es geht also einen gesitteten Bürger nichts an, was im Privaten geschieht; selbst wenn laute Musik aus einem Haus dringt, berechtigt das niemanden, in das Haus einzudringen, um zu schauen, ob dort eventuell Wein getrunken wird. Der Fromme darf zwar seinen Nachbarn deswegen ermahnen, aber ohne ihn bloßzustellen. Üble Nachrede ist eine Sünde gegen Gott und die Mitmenschen.
Anders gesagt: Mir besingt Bauer zuviel die hohe „Ambiguitättoleranz“, buchstabiert sie zuwenig als lebenswirkliche Vielfalt und laissez‐faire aus. Er schaut mir zuviel in die Bücher, zuwenig in die Häuser, Bäder und Gärten.
Seitenlang führt Bauer aus, dass Christen beim Vollziehen der Ehe keinen Spass haben dürfen, ohne das irgendwie zu belegen – das einzige Zitat, das er bringt, geht gegen Empängnisverhütung, nicht gegen Spass dabei.
Und da ich schon bemerkt habe, dass er ein ganz privates verzerrtes Bild von der Kirche hat, habʹ ich bei Kirchenvätern und Scholastikern, und auch in die Beichtspiegel aus meinem Bücherschrank geschaut. Hier das Ergebnis:
Bauer macht viel daraus, dass im Westen mit der Natur für und gegen bestimmte Formen des Sexes argumentiert werde, die Natur sei die Hure der Moral, im Islam gebe des dergleichen mit ṭabīʿa nicht. Vielleicht sollte er mal unter fiṭra oder ḫalq nachgucken.
Kein Lekorat
Komisch, dass bei Bauer einmal die Jurisprudenz vor aš‐Šāfʿī „an der Tradition des Propheten ausgerichtet“ war (42) und ein ander Mal es Šāfʿīs Werk war, „das Prophetenḥadīth als Rechtsquelle“ zu etablieren (159). Hat er da zwei unterschiedliche (ungenannt bleibende) Quellen zu Rate gezogen? Nach meinem Verständnis hat die zweite Recht: Vor aš‐Šāfʿī hat man sich an der Praxis der Gemeinde, dem Koran und vernünftigen Argumenten ausgerichtet.
Falsche Ausdrücke, Wiederholungen, schiefe Bilder stören – der Verlag hat wohl am Lektorat gespart. Sonst hätte etwa Abū‐Ḥanīfa den Bindestrich verloren. Mir sind auch viel zu viele „bekanntlich“s, „also“s, „offensichtlich“s und „zweifellos“e drin. Verglichen mit anderen deutschen ProfessorInnen schreibt Bauer schön, doch es ginge auch mit weniger Englisch und Latein.
Köstlich sind Formulierungen wie „Unnötig zu sagen, daß“ (270). Bezeichnender ist, dass Bauer „Ideologie“ für „ambiguitätsfeindlich, klar und totalitär“ (52, 58) hält – ohne den Begriff zu definieren oder eine Quelle für dieses Verständnis des Wortes anzugeben. Dass Marx den Begriff als Verschleierung ungerechter Verhältnisse und als Rechtfertigung von (Klassen‐)Interessen charakterisiert, ist ihm nicht bekannt
gharīb
Ein ganzes Kapitel widmet Bauer den Fremden im Islam bzw. bei Arabern. Er sagt, dass es im klassischen Arabisch weder den Begriff noch die Vorstellung von Fremden gegeben habe. Er behauptet, dass Fremdheit im Arabischen nicht objektiv von außen gedacht ist, sondern als „emotionaler Mangel im sich fremd fühlenden“, dass Fremd‐Sein „durch kein Wort ausgedrückt werden“ kann. (347) Bauer ist hier auf seinem Gebiet und er hat das ausführlich studiert, aber ich glaube es trotzdem nicht. Das gleiche Wort (gharīb) wird nämlich nicht nur auf Menschen angewandt, sondern auf alles mögliche, zum Beispiel auf Worte im Koran, und von denen glaube ich nicht, dass sie sich in ihrer Umgebung nur fremd fühlen; im Wörterbuch steht: seltsam, auffallend, ungewöhnlich, wunderlich, eigenartig, sonderbar, grotesk, schwer verständlich, dunkel, entlegen, ausgefallen, gekünstelt, maniriert. [Noch zweimal wäre das Wort in anderem Kontext von Bauer zu nennen: Ein Muḥammad-Spruch, der nur von einem übermittelt wird, heißt so (und nicht wirklich shadhdh wie Bauer schreibt), und ein Soldat, der aus einem anderen Regiment abkommandiert wird, mag sich zwar fremd fühlen, aber der wird vor allem wie ein Fremder behandelt.]
Heute zumindest benutzen die Araber Jerusalems das Wort genau wie wir, wenn sie von Fremden reden, manchmal benutzen sie auch al‐Khalaila (die Hebroner), so wie ein Bayer von „Preißen“ spricht; der Bewohner Marrakeschs hat ein bemäntelndes und ein klares Wort für den Zugezogenen: Marrakschī (denn er selbst heißt nach dem Beinamen „die Prächtige“ Bahjawī) und Barrānī (der Auswärtige). Besonders „freundlich“ ist die ramallahesische Bezeichnung Tailandi für einen Gastarbeiter aus dem Norden der Westbank oder die Bairuter für Dienstmädchen gleich welcher Herkunft: Srilankiya. Wem das nicht klassisch genug ist, Barbar/ʿajamī ist es gewiss. Man muss schon eine sehr rosa getrübte Wahrnehmung haben, wenn man ernsthaft meint, der „klassisch‐islamische“ Araber sei ohne Ausgrenzung ausgekommen. Nur lief bei ihm die Abgrenzung eher über Verwandtschaft (fremdstämmig aǧnabī) und über Religion (andersgläubig, ungläubig, ketzerisch kāfir).
Bauer klammert die Frühzeit aus, weil er "den" Vielfalt‐duldenden Islam besingen will, in dem es weniger ja‐nein gibt als sowohl‐als‐auch, weniger richtig als wahrscheinlich. Nun ist es aber so, dass die Dogmatiker immer und überall – oder vorsichtiger gesagt: im Westen wie im Nahen Osten – eher auf ja‐nein beharren und die Juristen sich überall mit Mit‐an‐Sicherheit‐grenzender‐Wahrscheinlichkeit zufrieden geben.
Indem Bauer die Frühzeit, in der Glaubensfragen eine große Rolle spielten, links liegen lässt, und díe Epoche herausstellt, in der Juristen den Ton angaben, erscheint der Islam als weicher. Die vielen Fälle, in denen in Bauers Mittelalter Gelehrte ins Gefängnis kamen, wegen schiʿitischer, anthropomorpher oder sonstiger Abweichungen, lässt er – natürlich – unerwähnt. Auch sonst ist er selektiv blind. Die Muʿtaziliten, „angeblich rationalistische“ Lieblinge des Westens, seien „rigoros“ für die ewige Hölle gewesen, wo hingegen beim sunnitischen Hauptstrom alle Muslime im Paradies Sex haben. Das Argument der Muʿtazila unterschlägt er: Wenn ein Christ wegen der Sünde des Unglaubens ewig brennen muss, dann ist es doch nur gerecht, dass ein Muslim wegen unbereutem Lustmord ewig bestraft wird. Er tut so, dass die Rationalität der Muʿtazila nur orientalistische Propaganda war, und den Wert von Gerechtigkeit gegenüber göttlicher Tyrannei erkennt er nicht. Er tut auch so, als habe man im postformativen Islam alles und jedes unglauben dürfen. Die Lockerheit in manchen Fragen herauszustellen ist Bauers Verdienst. Leider übersieht er, dass diese Lockerheit auf der sicheren Stellung seiner Protagonisten, den männlichen, sunnitischen Gelehrten, Bürokraten und Herrschern, beruht und darauf, dass das Dogma/ʿaqīda jeder Kritik entzogen ist, und das ist eine ganze Menge: Gott ist der allmächtige, ewige Schöpfer und Erhalter der Welt, alle menschlichen Handlungen hat er geschaffen, Muhammad ist der letzte seiner Gesandten, der Koran sein ungeschaffenes Wort, es gibt Engel, Geister, Offenbarungsbücher, das Jüngste Gericht, Hölle und das Paradies, die ersten drei Kalifen waren rechtgeleitet … Während es in der formativen Phase noch Manichäer und Skeptiker gab, und während man im modernen Europa Alles in Frage stellen kann, war das im Nahen Osten durchaus anders. Natürlich unterschlägt Bauer, dass das Dogma zu akzeptieren ist, ohne es verstehen zu wollen (bilā kaif), und dass nach Ibn Ḥambal das Offenlassen von Glaubenspunkten noch schlimmer ist, als Falsches zu glauben. Nur so kann Thomas Bauer die Position heutiger saʿudischer Gelehrter als völlig von der Tradition abgeschnittene, westliche Haltung – wenn auch mit anderem Inhalt – darstellen. Er macht des Guten zu viel.
Zur Umschrift
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich bei der Umschrift versuche, die arabische Hochlautung wiederzugeben und nicht die Schrift. Die Wiedergabe der Schrift (Transliteration) ist nur dann sinnvoll, wenn die Leser mit der arabischen Schreibung vertraut sind, aber arabische Lettern technisch nicht zur Verfügung stehen; für Bibliothekare empfehlen einige ein Mischsystem. In allen anderen Situationen führen nur Dummheit oder gedankenloser Traditionalismus zu inkonsequenten Umschriften, wie Ḥanbal obwohl Ḥambal gesprochen wird ([mb] wird auf Arabisch immer nūn + bāʾ geschrieben und „unbewegtes“ nūn + bāʾ wird immer [mb] gesprochen). Bauer liefert viele Beispiele inkonsequenter Umschrift. Der Gipfelpunkt der Verschmocktheit: „ich füge den arabischen Text hinzu; um einen akustischen Eindruck vom Klang des Originals zu bekommen, muß ... ‐an als ā ausgesprochen werden.“ (120). Warum schreibt er dann nicht ā – zumal im Arabischen ā geschrieben wird? Noch ein Beispiel: gharībun bi‐hādhihī l‐bilādi ghurbataini (344); am Ende von hādhihi ist weder ein ī/yāʾ geschrieben, noch wird hier ein langes ī gesprochen. Ich weiß, dass Bauer nicht der einzige deutsche Orientalist ist, der so verfährt. Dennoch ist es grottenfalsch.
Soweit meine Besprechung in inamo 70, Sommer 2012
Jetzt noch ein Abschnitt aus einem Vortrag, den Lutz Berger 2018 in Würzburg gehalten hat, den man ganz im Netz findet (plus meinem Einschub über nordisches Klima)
Ich glaube, es ist in diesem Kontext wichtig, die Felder, in denen Ambiguitätstoleranz postuliert wird, in den Blick zu nehmen. Ambiguitätstoleranz herrschte im Bereich der Einzelfragen der Religion, vor allem soweit diese politisch ungefährlich waren, vielleicht im Bereich der Sexualität, soweit sie nicht erbrechtlich relevant war, in einer Literatur, die nicht unbedingt als littérature engagée angesehen werden kann. Die Freude am sprachlichen Spiel, der Stolz auf besonders eleganten Ausdruck, am Überraschenden ist gerade da besonders groß, wo die elegante Form im Mittelpunkt stehen kann, wo man l'art pour l'art betreibt und nicht die Notwendigkeit der Übermittlung einer Botschaft die Freude an der Form erstickt. Alles, was mit politischer Macht, mit Besitz, mit sozialem Status zu tun hatte, war keinesfalls Gegenstand einer besonderen Toleranz gegenüber Zweideutigkeiten. Die strikte Trennung von männlichen und weiblichen Sphären, von der oben bereits die Rede war, diente der Vermeidung jedweder Ambiguität in Hinblick auf Unterhalts- und Erbansprüche.
Ich würde daher postulieren, dass die Freude an der Ambiguität und die Vielzahl der Felder, in denen sie zum Ausdruck gebracht werden konnte, etwas zu tun hat mit der Trennung der Sphäre der Intellektuellen und Gelehrten, die Bauer untersucht, von der der politischen Macht, die er nur am Rande behandelt. Ambiguitätsfreude der Intellektuellen ist Ausdruck des weitgehenden Fehlens einer überregionalen politischen Öffentlichkeit, einer gelehrten Debatte über Macht und Politik. Über Machtfragen entschied in der Regel das Schwert, nicht die öffentliche Meinung der Gelehrten.
Die Bereitschaft, in politisch relevanten Fragen Meinung und Gegenmeinung öffentlich und gleichberechtigt nebeneinanderzustellen und die damit zusammenhängende Ambiguität auszuhalten, war, soweit ich sehe, in vormodernen Gesellschaften generell, jedenfalls aber in den islamischen Gesellschaften der Epoche, die Thomas Bauer in den Blick nimmt, selten so groß wie in der klassischen europäischen Moderne, die doch in unserer Postmoderne gemeinhin gerade auf Grund ihres Drangs nach Eindeutigkeit kritisiert wird. Was könnte von größerer Toleranz gegenüber widersprüchlichen politischen Wahrheitsansprüchen zeugen als das so moderne Konzept von „Her Majesty's loyal opposition“?
Ist Ambiguitätstoleranz ein spezifisch vorderorientalisches Phänomen?
Ich würde auf den ersten Blick die These unterstützen, dass im Vergleich mit westeuropäischen Gesellschaften vorderorientalische tendenziell uneindeutiger waren. Das ergab sich daraus, dass dort in der Vormoderne zentrale und strukturierte Institutionen der Normierung von Denken und Verhalten fehlten. Es gab keine Kirche, schon gar keine Inquisition, der Unterricht war lange Privatsache und blieb dauerhaft viel stärker von den selbstbestimmten Interessen der Ler­nenden geprägt als im Westen. Was die höheren Studien angeht, än­derte sich das in der Osmanen­zeit bald nach 1500, aber nur für die, die im Staatsdienst Karriere machen wollten.
Was für die intellektuelle Welt galt, galt auch für die Gesellschaft als Ganzes: Eine Stände­ordnung, die jeden in einen vorgegebenen Le­bens­weg zwang, bestand nicht. Natürlich konnte nicht jeder vom Teller­wäscher zum mächtigen Günstling des Herrschers aufsteigen. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die soziale Ordnung deutlich offener war als in Alteuropa. Das Konzept der Privat­heit, das einem jeden die Möglichkeit gab, in seinem eigenen Bereich zu leben, wie er es für richtig hielt, verbunden mit dem Respekt vor den privaten Lebenentscheidungen einzelner, war deutlich stärker entwickelt. Un­terschied­liche religiöse Gruppen lebten nebeneinander – sicher mit klarer Rangordnung, aber doch deutlich spannungsfreier als in Westeuropa vor dem 18. Jh. All das schuf Voraussetzungen für Ambiguitätstoleranz, die in Westeuropa so nicht existierten.
Oder, um den Blick fort von Europa nach Ostasien zu wenden: Finden sich nicht in den Literaturen Chinas und Japans zahllose Beispiele für bewusste Unklarheit und Doppelbödigkeit, die denen der muslimischen Literaturen in nichts nachstehen?
Wenn wir von Literatur sprechen, können wir die Frage stellen, ob logische Stringenz in Handlungsablauf und Charakterzeichnung in vormodernen Literaturen auch des europäischen Mittelalters stets eingefordert worden ist. Hat man nicht hier oft Unklarheit und Zweideutigkeit toleriert, einfach, weil die Idee der logischen Stringenz von Erzählung genauso wenig zwingend ist wie die perspektivische Darstellung in der Malerei.
Gleichviel: Vormoderne Kulturen, so möchte ich in aller Vorsicht formulieren, haben eine Tendenz, bei der Beschreibung der Welt uneindeutig zu sein. Die dauernde Einforderung von Eindeutigkeit, Normierung, Rechenhaftigkeit und das Streben nach dem Aufweis klarer Kausalbeziehungen in allen Bereichen von Weltbeschrebung und -erklärung ist zweifelsohne ein Phänomen der westeuropäischen Moderne genauso wie ihres nahöstlichen Gegenstücks und unterscheidet beide von den Epochen davor. Die westeuropäische Moderne ist allerdings beim Beschreiben und Beherrschen von Welt erfolgreicher als die Moderne des Vorderen Orients, weil sie seit dem 17. Jh. die Vorläufigkeit jeder eindeutigen Beschreibung angenommen hat: ein zutiefst ambiges Konzept. Die Menschen im Vorderen Orient haben Moderne seit dem 19. Jh. auch als Kontrollverlust wahrgenommen. Sie waren daher schlechter in der Lage, die Ambiguität, die darin liegt, dass man einerseits exakt beschreibt, erklärt und normiert, andererseits die Ergebnisse dieses Prozesses immer nur für vorläufig hält, zu ertragen.
Weil er schreibt, was gängig ist. Weil er ausreichend vereinfacht.
Ich finde, er schreibt Unsinn.
Der Begriff »Ambiguität« ist im Deutschen weniger gebräuchlich als sein englisches oder französisches Äquivalent, denn ambiguity und ambiguité sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber auch im Deutschen unverzichtbarIm Deutchen kann man auf das Wort bestens verzichten, ja man sollte es so gut wie nie gebrauchen, und schon gar nicht so wie Bauer, nämlich falsch.
Es kommt von ambo (zwei) und iggere (treiben)
Ambig Bauer benutzt es aber meist im Sinne von vieldeutig
wo es doch zwei-triebig heißt.
Man braucht es im Deutschen überhaupt nicht,
wir können schließlich genauer sagen, was mir meinen:
zwei-deutig, un-eindeutig
zwei-gestaltig,
Zwei-Naturen, Zwi-licht, Nach-Sicht
doppel-bödig,
Zwi-tracht, zwiträchtig
mehr-deutig, viel-deutig,
Einspruch, Widerspruch, widersprüchlich,
unabgeschlossen, unentschieden, unentscheidbar, unübersichtlich
Mit Widersprüchen leben, sie aushalten,
nicht leugnen von Widersprüchen, sie nicht zukleistern.
Vielfalt, Pluralismus, Dialektik, dialektisch,
Gegen-satz, gegensätzlich, plural,
Heterogenität,
janusköpfig,
Offenheit, offen lassen,
unscharf, ungenau, vage, unklar, "irgend", "so in der Art", "oder so",
mit Toleranz, mit Spiel, mit Bandbreite, ungefähr, dehnbar, flexibel
Manchmal trifft es auch "5 gerade sein lassen",
es nicht zu genau wissen wollen, es im Dunkeln belassen,
"sowohl als auch", "jein" oder gleichzeitig.
Mal hilft es, Differenzen auszuklammern, eine Sache auf sich beruhen zu lassen,
Ungehöriges nicht zu "sehen", d.h. sie nichts aufs Tapet zu bringen.
Ambig Bauer will all dies mit éinem Wort verkleistern,
ich ziehe die Treff-Genauigkeit verschiedener Worte vor.
Ich verstehe schlicht nicht, wie ein des Deutschen Mächtiger
sagen, kann "ambig" (gesprochen ammbick) sei unverzichtbar.
Wenn ich nicht spinne, spinnt Ambig Bauer.
Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert,„Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert, muß man auch den Begriff der Bedeutung weiter fassen“ (26). Muss man? Ambiguitas
muß man auch den Begriff der Bedeutung weiter fassen
Unnötig auch einen „coitus pro natura“ zu erfinden, die Scholastiker meiner römisch‐katholischen Kirche kennen nur einen „coitus naturaliter“, aber Bauer entstammt bestimmt einer alternativen römischen Kirche.
Ich verstehe auch seine Schwierigkeiten, den grünen Stecker in das grüne Loch und den roten in das rote zu stecken, nicht – seine Ausführungen über drei Gebrauchsanweisungen, zwei Löcher und einem Stecker (54‐6) sind in meinen Ohren breit getretener Quark – vielleicht sind sie ja für andere erhellend.
Ginge es ihm nicht um Hochgelehrsamkeit sondern um Einsichten, dann kämen wir mit Offenheit, Vielfalt, Sowohl‐Als‐Auch, Pluralismus, Heterogenität, mit‐Widersprüchen‐Leben, Unabgeschlossenheit, Mehrdeutigkeit, „kommt drauf an“, „5 gerade sein Lassen“, Streit‐Aushalten weiter als mit „Ambiguität“. Aber dann gelänge es ihm weniger gut, dem Leser bis kurz vor Schluss weiszumachen, dass Islam gut und Westen schlecht sei. Als Skeptiker habe ich mich gleich gefragt, ob das denn wirklich so sei, dass der moderne Westen „klar und eindeutig“ sei und deshalb Bonaparte die Mamelucken besiegt habe. Ich denke die vielen, relativ preiswerten, schnell nachzuladenen Schusswaffen spielten dabei eine gewisse Rolle und dass Standardisierung Massenfertigung erleichtert. Dass die Muslime Dinar und Dirham standardisiert haben, hat den Handel erleichtert. Aber schon der technische Fortschritt des Westens war weniger Folge von „klar und eindeutig“ wie Bauer meint, als von „trial and error“, Vorläufigkeit, Nichtabgeschlossenheit; Besser‐Machen (ohne auf das einzige wahre Optimum zu warten) brachte den Westen nach vorn, nicht „Ornament ist Verbrechen“, wie Bauer Adolf Loos falsch zitiert <dessen Manifest heißt Ornament UND Verbrechen>, sonst hätte es unter Wilhelm II keinen Fortschritt bei der Stahlproduktion gegeben, sondern erst in den 1920er Jahren.
Was Bauer hier schreibt entspringt nicht eigenem Studium oder eigenem Denken, sondern stammt von Herren, die vor allem Frankreich studiert haben. Hass auf Andersdenkende (Bartholomäusnacht und Henri IVs Ermordung) sind aber nicht Bedingung für Meter, Gramm, Liter und Nullmeridian. Nicht Louis' Vertreibung der Hugenotten (Edikt von Nantes) sondern Colberts Schiffskanäle und die Abschaffung der Binnenzölle steigerten Frankreichs Bruttosozialprodukt. In Deutschland brachten Zollunion, Mittellandkanal, Reichsmark, und MEZ Produktionszuwachs auch ohne konfessionelle Homogenisierung und Zentralisation. Nicht die „Preußische Union“ von Lutheranern und Calvinisten machte Preußen reich und „modern“ sondern die katholischen Kohle an Ruhr, Saar und in Schlesien. Bauer muss ja nicht historischer Materialist werden, aber sein Überbaugedusel ist schon sehr idealistisch.
Wenn er schreibt, dass die „Ökonomie besonders ambiguitätsintolerant“ (58) sei, dann hat er sich nichts dabei gedacht. Nach meinem Verständnis ist es genau umgekehrt: der Markt lebt davon, dass Samsung und Apple, Windows und MacOS, BMW und Daimler nebeneinander existieren und nicht einer einzig recht hat. Nimmt man den Wettbewerb von FAZ und Süddeutscher, von Grünen und Piraten dazu, sieht man, dass „der Westen“ doch nicht so rigide und unflexibel ist, wie Bauer ihn darstellt. Erst kurz vor Schluss räumt er ein, dass „polyphone Musik, ... Opern ... und Demokratie“ Leistungen des Westens seien, die nicht „klar und eindeutig“ seien; doch seien Erstere marginal und die Demokratie „von Hekatomben von Opfern gesäumt“ (403). Ich vermute, dass sich auf diesen Seiten Diskussionen mit Menschen niedergeschlagen haben, die mehr vom Westen verstehen als Bauer, dass er mit diesem Eingeständnis aber schon die Grenze seiner Einsicht in Positives am Westen erreicht hat. Meiner Ansicht nach wäre das Buch viel besser, wenn es mehr hätte von Dingen, die Bauer gut kennt, und weniger über den Westen.
Bauer schreibt immer wieder von den vier Rechtsschulen, obwohl er andere als die vier erwähnt, u.a die von Abu Thaur (171); dabei passiert ihm ein Fehler: er spricht von „dem Ẓāhiriten Abu Dāwūd“ (170). Erstens heißt der Mann D., nicht Abū D., zweitens ist das der Gründer der Schule, die deshalb auch Dāwūdīya heißt. Bei zehn nebeneinander existierenden Schulen von Zweideutigkeit zu sprechen, scheint mir so schief wie bei 28 Koranlesarten. Bauer meint mit „ambi“ gar nicht „ambi“ sondern „pluri“ oder „poly“; warum sagt er nicht, was er meint?
Qirāʾāt
Gleichzeitig spricht man auch bei einer einzelnen Textstelle, die in verschiedenen Versionen unterschiedlich lautet, von einer qirāʾa.Das stimmt nicht: nicht die Text‐stelle nennt man qirāʾa, sondern ihre Varianten nennt man qirāʾāt. Für einen Deutschen ist die Sache eigentlich ganz einfach: sowohl eine festgelegte Lesung des ganzen Koran nennt man „Lesart“, wie die einer Stelle. Nur weil im Englischen bei der Stelle von „variant“ und beim ganzen Koran von „reading“ geredet wird, kommt Bauer durcheinander. Der Vollständigkeit halber: qirāʾa hat nóch eine Bedeutung: Lesung/ Rezitation/ Verklanglichung, also die Aktualisierung des Textes (performance).
Bauer: Kultur der Abiguität. S. 62
das Bewusstsein von der Pluralität der qirā´āt hat durch die Einführung des Buchdrucks einen schweren Schlag erlitten. Im Jahre 1344/1925 wurde in Kairo der Koran in der Lesung »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim« gedruckt. Diese Ausgabe hat sich rasch in der gesamten islamischen Welt durchgesetzt.“ (95)Nichts davon ist richtig:
„Der historische Zufall, daß sich die »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim«‐Lesung im Gefolge des Osmanischen Reiches weithin ausgebreitet hat und schließlich dank des Buchdrucks in der Praxis eine Monopolstellung erlangte, ... (108)
Der Buchdruck hat das Bewußtsein der Lesungen gestärkt.
Die Ausgabe von 1342/1924 (!) hat sich nie und nimmer "in der gesamten islamischen Welt durchgesetzt":
1.) Selbst in Ägypten, wo sich die neue Orthographie dank staatlichen Drucks durchsetzte, war die Ausgabe der Amīriyya immer eine Seltenheit. Vor zehn Jahren lagen davon noch unverkäufliche Exemplare in den Buchläden. Ausgaben auf 522 Seiten verkauften sich besser: erst die von Muṣṭafā Naẓīf Qadirġalī, nach 1975 die von Muḥammd Saʿd Ibrāhīm al-Ḥaddād geschriebene, nach 1976 auch der ganz schlicht gesetzte Muṣḥaf al-Azhār aš-Šarīf, heute wieder al-Ḥaddād/Šamarlī sowie ʿUṭmān Ṭāhā auf 604 Seiten.
Zweitens hat sich erst die Orthographie der Ausgabe von 1952 außerhalb Ägyptens durchgesezt,
in der Fassung von ʿUṭmān Ṭāhā ‒ also ab 1977 ‒ ganz allmählich,
Drittens nur in Ostarabien, weder in Persien, noch in Marokko, weder in der Türkei (oder bei den Türken in Deutschland), noch bei der größten Gruppe der Muslime, den Indern, Pakistani, Bengalen und Indonesiern.
Es ist auch kein historischer Zufall, dass das osmanische Reich und das Moghulreich die ḥanafitische/kufische Rechtsschule annahmen, weil diese Reiche (für das osmanische zumindest über lange Zeit) nur eine Minderheit von sunnitischen Einwohnern hatten und deshalb die Rechtsschule wählen mussten, die die Andersgläubigen am wenigsten diskriminiert. Und so wie die Mālikiten letztlich eine Lesung aus Medina bevorzugen, so die Ḥanafiten eine aus Kufa. Ob das entscheidend war oder die Tatsache, dass ʿĀṣims Lesung näher an der Standardaussprache des Arabischen ist als andere Lesungen, dass man also auf weniger Widersprüche zwischen den Grammatik‐Büchern und den Koran‐Vortragsbüchern stößt, und deshalb gerade Türken, Moghulen, Perser, Inder und Indonesier sich für die leichteste Lesung entschieden, kann offen bleiben.
Nebenbei: Bevor die „Marokkaner“ die Lesung nach Warsch von den „Tunesiern“ übernahmen, hatten sie nach Hamzah aus Kufa gelesen. Auch diese inner‐maghrebinische Vereinheitlichung hat nichts mit dem Buchdruck zu tun.
Es ist aber nicht bloßer Zufall und der Buchdruck tat wenig zum Zurückdrängen der anderen Lesarten. Bauer müsste nachweisen, dass vor 1830 (dem Beginn des Drucks von Koranen in der islamischen Welt) der ʿĀṣim‐Anteil geringer war als danach, und nach 1925 nochmal größer als davor.
Was man leicht zeigen kann, ist, dass CD, DVD, Internet, Apps und Buchdruck in den letzten 30 Jahren mehr zur Verbreitung von anderen Lesarten als Ḥafṣ nach ʿĀṣim getan haben als alle Religionsschulen in den 1000 Jahren davor.
Die Kultur der Ambiguität, das Buch ...
... ist ein Märchenbuch, voller Lügen, schwarz-weiß statt "ja-aber"-grau.
Obwohl es laut Untertitel "Eine andere Geschichte des Islams" ist, geht es in ihm gar nicht um den Islam, sondern nur um zwei Varianten, zwei von hundert:
— um den städtischen, sunnitischen Gelehrtenislam Ostarabiens (Ägyptens, Syriens, des Irāqs), nicht des frühen, sich erst bildenden Islam, sondern um den "postformativen", "vorkolonialen",
— den "postkolonialen", die Antwort auf das Vordringen Europas, also insbesondere den Wahhabismus.
Doch die meisten Deutschen wissen so wenig über Islam, dass sie daraus viel lernen können:
1) Der Nahe Osten war weder rein islamisch, noch durch und durch religiös. Die Herrscher waren nicht Befehlsempfänger religiöser Würdenträger; Kunst und Wissenschaft waren keine Anhängsel der Religion.
2) Der mittelalterliche Islam war nicht dogmatisch, unduldsam und prüde.
Er hat weder ethnische Säuberungen organisiert noch religiöse Minderheiten vernichtet.
— Islamismus ist keine Rückkehr zum traditionellen Islam, sondern ein Versuch, den Westen mit dessen Methoden zu schlagen.
In Kapiteln über Koran, Hadith und Recht zeigt Bauer, dass Gottes Buch, das Beispiel des Gesandten und Gottes Regeln zwar absolute Geltung beanspruchen, aber niemand wissen kann, was Gott gemeint hat und welche "Gesandtensprüche" wirklich von ihm stammen, deshalb die Schariʿa gar nicht angewendet werden kann.
Kernthese über den westlichen Menschen
Ambig Bauers Kernthese: «Eine beträchtliche Angst vor ihrem eigenen Körper begleitet die Menschen des Westens seit Jahrhunderten. ... [Die daraus resultierenden] ambivalenten Gefühle [können] zu starker Ambiguitätsintoleranz führen.» Durch Imitation des Westens sinke seit 200 Jahren im Nahen Osten die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. ‒ Während also im Westen der Leib den Unterbau für Kultur und Mentalität bilde, gestalte im Nahen Osten westliche Diskurshegemonie diese um.
Thomas Ambig Bauer ist Philologe; wenn er arabische Texte referiert, ist er gut, wenn es um Gesellschaft und Wirtschaft geht, ist er schlecht. Er schreibt: Juden und Christen fand man in allen Dörfern, ihnen standen außer dem Militär alle Berufe offen. Ersteres stimmt nicht und Letzteres ist nicht nur Berufsverbot, sondern elementare Entrechtung: Juden und Christen durften keine Waffen tragen, waren wie Frauen und Kinder schutzbedürftig. Ich glaube auch nicht, dass sie Qadi oder Muezzin werden konnten. De facto waren sie auf wenige Berufe beschränkt, etwa Seifensieder, Silberschmiede, Musiker, Hausierer, Photographen, Steuereintreiber. Von ethnischer Arbeitsteilung hat Bauer nie gehört. Immerhin kommt «Arbeitsteilung» vor, doch damit meint er nicht Spezialisierung in Handwerk, Handel, Landwirtschaft, sondern «Arbeitsteilung» zwischen Juristen, Sufis, Theologen, Hadithexperten.
Er schaut durch die rosarote Brille wenn er von Entdeckungsreisen in Afrika schwärmt, aber die Sklavenjagden nicht erwähnt. Statt dessen: «Die soziale Mobilität war geradezu schrankenlos ... Im Nahen Osten konnte man tatsächlich vom Sklaven zum Fürsten werden.»
Es war aber nicht so, dass erst ein Bäcker Herrscher war, sein Nachfolger ein Dichter, darauf ein Sklave folgte, der von einem Stammeskrieger abgelöst wurde. Meist herrschten Geschlechter. Auch die 500-jährige Militärdiktatur, die Ägypten regierte, heißt in den arabischen Quellen «Dynastie/daula»; in der Zeit waren alle Herrscher Ex-Sklaven, aber niemals Küchen-, Harems- oder Plantagensklave, sondern ausschließlich Generäle. Nur Sklaven des Sultans oder eines hohen Beys konnten Sultan werden. Das Verhältnis der Sklaven zu ihren Händlern war weit besser als das der heutigen Wirtschaftsflüchtlingen zu ihren Schleppern. Eltern verkauften Kinder, damit diese es besser hätten; sogar freie Jungs versuchten, als Sklaven in die Rekrutenanstalten zu gelangen.
Was die Sexualität betrifft zeichnet Bauer folgendes Bild: Mit Sex ging man «locker und ungezwungen» um, Verbote waren rein theoretisch. In tausend Jahren wurde niemand wegen einvernehmlichem Sex zwischen Männern verurteilt. «In der islamischen Sexualethik wird Sex als etwas uneingeschränkt Positives gesehen. Der Geschlechtsverkehr diene, so al-Ghazäli, erstens dazu dem Menschen einen positiven Vorgeschmack auf das Paradies zu geben, und zweitens, für den Fortbestand des Menschengeschlechts zu sorgen — man beachte die Reihenfolge!»
Nun, leider ist das falsch, sogar die Reihenfolge;
in der Iḥyāʾ ʿUlum ad-Dīn (al-Ghazālīs Hauptwerk) kommen weder «Geschlechtsverkehr» noch «Menschen» vor; es geht um «Männer» und «das Bestellen/al-ḥirāṯa» (d.h. Pflügen und Besamen) der Ehefrauen. Statt «Fortbestand des Menschengeschlechts» steht im Original «Söhne» und dort geht es auch darum, durch Koitus die muslimische Gemeinde zu vergrößern. Die Lust stellt al-Ghazāli als ein Werkzeug des Satans vor und als Trick Gottes:
Der Mann bekommt einen Vorgeschmack auf Paradiesfreuden, unterwirft sich deshalb völlig, um in den Himmel zu kommen. Al-Ghazāli gelingt es sogar trotz des Vorbilds des Gesandten, der bekanntlich kleine Mädchen, Frauen und Witwen heiratete, alles andere als ein «uneingeschränkt positives» Urteil abzugeben: Nur in den ersten 200 Jahren des Islam seien die Frauen züchtig und tüchtig gewesen, heute sei das anders. Ganz wie Paulus stellt al-Ghazāli die Ehelosigkeit über die Ehe.
Ambig Bauers Behauptung, dass das Verbot gegen Sex außerhalb von Ehe und Konkubinat «gültig und nicht gültig» sei, dass diese «Gesetze undurchführbar» seien und dass man mit ihnen «lax umgegangen» sei, ist Unsinn. Er selbst gibt an, dass im Gesetz selbst hohe Beweishürden errichtet wurden. Das Verbot war absolut gültig, doch der Vollzug der Strafe war fast nur bei einem Geständnis möglich. Wenn er aber meint, dann sei das Gesetz «irrelevant», zeigt er, dass er nichts kapiert hat.
Es ist ja nicht nur so, dass wir wenig über Verurteilungen wegen «einvernehmlichen Sex zwischen Männern» wissen, — wir wissen überhaupt nichts darüber — im Gegensatz zu Vergewaltigungen. Es gab entweder keinen einvernehmlichen Sex zwischen Männern oder man hielt es geheim, weil man sich schämte und Angst hatte.
«Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt durch sein Leugnen die Gültigkeit des Verbots; solch deviantes Verhalten wird toleriert. Wer sich non-konformistisch verhält, sich also um ein Verbot einfach nicht kümmert, es für sich außer Kraft setzt, ohne seine allgemeine Gültigkeit anzugreifen, wird in Frieden gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine Gültigkeit bestreitet, muss zur Raison gebracht werden. Denn der ist ein Ungläubiger, der etwas erlaubt, was in der Religion des Propheten verboten ist» (A. Schmitt: Liwat)
«Im vorkolonialen Nahen Osten war es selbstverständlich, dass schöne junge Männer begehrens­wert sind». Belege dafür gibt es nicht. In den Tausenden von Liebesgedichten in denen es nicht ausdrücklich um Frauen geht, wird nie männliche Schönheit besungen, nie Waschbrettbauch, kantiges Kinn, ... statt dessen weite Hüfte, Wackelarsch, trippelnder Gang, Babyspeck ... Auch, wo mit dem Maskulin keine Frau gemeint ist, was die arabische Grammatik erlaubt, geht es nie um Virilität; die Dichter wollten den Knaben kokett und unterwürfig, zart und gefügig. Mit Homo-Erotik, also mit Begehren eines Gleichen, hat das nichts zu tun.
Thomas Bauer behauptet, in den «Bartwuchsepigrammen» ginge es um kräftige Bärte; es ist aber immer von zartem Flaum die Rede. Er behauptet, der Bart werde in Kauf genommen, weil der «Jüngling ... noch immer süß» sei.
Da steht aber, dass er noch immer Schönes gewähre, nämlich dass er sich penetrieren lässt.
Im nächste Gedicht werde «der Bartwuchs als etwas rundum Positives dargestellt»:
"Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, der zieht nicht fort, wenn Frühlingsblumen sprießen."
Es geht aber nicht darum, dass die Gegend jetzt rundum schön und damit auch der Bart schön sei.
Vielmehr sagt der Dichter: Wer in einen unbehaarten Anus reingelassen wurde, verzichtet auf derlei Freuden nicht wegen zarter Frühlingshärchen, die jetzt rund um den Anus sprießen.
Merkwürdig auch Bauers «Fortleben»-Behauptung. Gewöhnlich nimmt man an, dass die Muslime nur die nützliche Literatur der Griechen rezipierten: Medizin, Philosophie, Mathematik und Astrologie, dass sie aber von Homer, Sophokles und Sappho gar keine Kunde hatten. Bauer schreibt, mit den letzten Flaumgedichten ende eine «zweitausendjährige Tradition, denn es ist schwer vorzustellen, dass das arabische apologetische Bartwuchsepigramm nicht die Tradition seiner antiken Vorläufer fortsetzt.» Im Gegenteil: Ohne Informationen über Griechisch-Kenntnisse bei arabischen Dichter und Manuskripten mit griechischer Lyrik im Besitz islamischer Gelehrter kann ich mir Bauers «Fortsetzung» nicht vorstellen.
Insgesamt malt er ein rosiges Bild vom vorkolonialen Nahen Osten, in dem Sklaven zu Prinzen wurden, und Päderasten ihrer Lust frönen konnten ‒ Frauen und Penetrierte kommen aber nicht zu Wort. Gewiss, «bei uns» kann man nicht nur durch Tat und Wort sündigen, sondern schon in Gedanken, aber dass «der Islam» einfach nur sinnenfroh gewesen sei bis die Kolonialherren ihn verdarben, stimmt nicht. Auch Muslime sprachen von dunklen Trieben, und wenn «im Islam» das Begehren des Mannes weniger verteufelt wurde als «bei uns», so verteufelten Muslime die Frau umso mehr. Und bei der Verteufelung der Frauen zieht sogar manch lockerer Sufi mit strengen Hambaliten an einem Strick.
Die Idee, dass die Verachtung der Penetrierten, mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zu tun hat, kommt Bauer nicht.
Bei Ambig Bauer kriegen alle Reaktionen auf die Moderne ihr Fett ab; bei ihren jeweiligen Ahnen ist er jedoch parteiisch: Während die «Helden» der Reformer, die «rationalistischen» Mu'taziliten als dogmatisch und rigoros getadelt werden, schimpft er mit ihren ‒ genauso dogmatischen und rigorosen ‒ Gegnern, den Hambaliten, nicht. (Übrigens besteht die «Rigorosität» der Mu'taziliten darin, dass bei ihnen auch Muslime, wenn sie schwer sündigen und nicht bereuen, in die Hölle kommen und nicht nur Juden, Christen und Heiden.) Das gehört zu Bauers Strategie, den frühen Islam ‒ in dem Theologie noch diskutiert wurde ‒ und den späten ‒ die Antworten auf die Kolonisatoren ‒ gegenüber dem dazwischen ‒ in dem das Dogma unhinterfragt war ‒ runterzumachen.
Eigenartig, dass Bauer zu dem Thema die Arbeiten von Fachleuten völlig unerwähnt lässt, (Khaled el-Rouayheb, Before Homosexuality in the Arab-Islamic World 1500- 1800 und Dror Ze'ev, Producing Desire. Changing Sexual Discourse in the Ottoman Middle East), die das Gebiet genauer erforscht haben als Bauer; auch die Arbeiten von Everett K. Rowson und Frederic Lagrange bleiben unerwähnt.
eine Mentalitätsgeschichte?
Ob er wirklich eine Mentalitätsgeschichte des Nahen Osten vom 10. bis zum 19. Jahrhundert geschrieben hat, wie er glaubt, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob man von den Abhandlungen der städtischen Gelehrten auf die Mentalität der Bauern schließen kann – so wenig wie man von William von Ockhams Schriften auf die seelische Verfassung bayrischer Bauern, und von denen eines Erasmus auf die von Rheinschiffern schließen kann.
schlicht falsch
Wenn ich kritisiere, dass Bauer sich seinen Islam zurechtlegt, indem er fast alle Islame ignoriert – sowohl im Sinne von „nicht kennt“ wie im Sinne von „übergeht = dem Leser vorenthält“, dann geht es nicht nur um Faulheit. Bauer tut so, als sei der Muslim vor der Ansteckung durch das moderne Europa gar nicht in der Lage gewesen, Eindeutigkeit zu verlangen. Zu solchen Ausführungen über den Koran, wie sie saʿudische Gelehrte heute produzieren, sei der von Europa noch nicht verdorbene Muslim nicht in der Lage gewesen, für diesen sei Vieldeutigkeit geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Nun schreibt Aḥmad b. Muḥammad as‐Saiyārī im Kitāb al‐qirāʾāt über den Koran: bal huwa ḥarf wāḥid min ʿindi wāḥid nazala bihi malak wāḥid ʿalā nabī wāḥid (er hat éine Lesart, kommt von Einem, ist éinem Propheten durch éinen Engel geoffenbart); Saiyārī lebte aber tausend Jahre vor der Bauerschen Verschwörung des Westens, den Islam auf Linie zu bringen.
Die Belege, die Bauer von seinen Gelehrten bringt, sind höchst aufschlussreich; mit dem (vormodernen) Islam darf man sie aber nicht verwechseln.
Islamisierung des Islam
Seitenlang wütet Bauer – zu Recht – gegen die „Islamisierung des Islam“, was zweierlei meint: einmal, dass man die islamische Religion theologisiert, sie paralleler zum Christentum macht als sie ist, spielt doch in ihr das Dogma eine weniger wichtige Rolle, zum andern, dass man die Gesellschaft religiöser macht als sie ist. Und in diesem Zusammenhang schimpft er gegen die Dummheit, „Islam“ und „islamistisch“ zu benutzen, wo die Religion gar nicht gemeint ist. Er selbst macht dies leider auch immer wieder – nicht nur im Titel des Buches. Ich selbst behelfe mich damit, dass ich „muslimisch“ eher für religiöse Aspekte nehme und „islamisch“ für die Zivilisation benutze. Er zetert über Islamexperten, die gar nicht über die Religion reden sondern über alles Mögliche im nahen Osten, ohne zu erwähnen, dass das einer Binnensicht entspricht: Die Muslime nennen die gesamte von Muslimen beherrschte Welt das „Haus des Islam“; wenn etwas davon an die Fehlgläubigen verloren geht, sind sie gekränkt und in ihrem Haus ist ein christlicher Präsident unvorstellbar. Bauer übersieht auch, dass Religion nicht nur Dogma, persönlicher Glaube, offizieller Ritus, Zauberei/Hexerei, Versenkung und Verzückung ist, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Egal wie unfromm einer ist, wenn er Alawit, Jude, Druse, Christ ist, wird er im Dār al‐Islām anders behandelt als ein Rechtgläubiger – und (deshalb?) handelt er auch anders.
Bauer kämpft gern gegen Pappkameraden: Er tut so, als hielten die Orientalisten die Medizin des Nahen Ostens für religiöse Medizin, obwohl sie doch völlig unreligiös sei, nämlich die alte hippokratisch‐galenische. Acht Seiten später – wenn von Medizin nicht mehr die Rede ist – schreibt er, dass im vorkolonialen Nahen Osten „auf allem ein religiöser Feinstaub“ (201) liege. Es gebe Religion gar nicht als eine eigene Sphäre, alles sei irgendwie religiös. Hätte er das eingangs eingeräumt, hätte er sich viel Schaum vorm Mund sparen können. So gibt es auch gar nicht die von ihm behauptete harte Trennung (195: wenig Ambiguitätstoleranz) zwischen „griechischer“ und „prophetischer“ Medizin. Auch die muslimischen Praktiker der griechischen Medizin haben keinen Aderlass gemacht, ohne die Basmala zu murmeln; auch sie haben ihr Behandlungszimmer mit Kalligraphien der āyāt aš‐šifāʾ geschmückt. Und wenn man sich die Bücher der prophetischen Medizin anschaut, so gibt es – besonders bei Ḥambaliten – welche mit viel Hildegardmedizin (Bauers Analogie) aber auch solche, die außer ein paar frommen Sprüchen die übliche Lehre und Heilmethoden bringen. Die Trennung von weltlicher und religiöser Medizin war so streng nicht.
Kapitelendnoten
Für den Leser, der Bauers Gedankengänge nachvollziehen will, ist das Buch eine Unverschämtheit. Der Autor schreibt: „Der Leser sei versichert, daß Anmerkungen auf nichts verweisen als auf Quellen‐ und Literaturangaben ... Ihm entgeht also nichts inhaltlich Wichtiges, wenn er eine entspannte Lektüre permanentem Nachschlagen vorzieht.“ (25)
Oft bieten die Kapitelendnote keine Primärquelle für die Behauptung, sondern irgendeinen Feuilletonisten, der Bauers Meinung schon früher vertreten hat. Ob man dort Quellen findet, weiß man nicht. Bei arabischen Texten gibt Bauer die Seite nach einer beliebigen Ausgabe an. Würde er zusätzlich kitāb, bāb, faṣl angeben, könnte man die Stelle in jeder Ausgabe finden. Noch praktischer wäre ein Originalzitat. Aber weil fürs große Publikum geschrieben, verzichtet Bauer auf die Nachvollziehbarkeit. Ich kann nicht glauben, dass Fußnoten einen so großen Abschreckungseffekt haben. Dann könnte man ja auch gleich auf diakritische Punkte in der Umschrift verzichten.
Und Bauer hält sich nicht mal an seine Versicherung. Der folgende Satz ist doch wohl weder eine Quellen‐ noch eine Literaturangabe:
„Die Begriffe »Homosexualität« (Erstbeleg 1869) und »Heterosexualität« (Erstbeleg 1880) gehen auf Karl Maria Kertbeny (1834‐1882) zurück“ (421)
Das ist (selbstverständlich) falsch und zeigt, dass Bauer jeden Unsinn glaubt. In der deutschen Wikipedia ist sowohl unter „homosexuell“ wie unter „Karl Maria Kertbeny“ der Erstbeleg für beide Begriffe abgebildet. „Natürlich“ hat Kertbeny sich die Begriffe gleichzeitig ausgedacht.
A propos „gleichzeitig“: Im Theoriekapitel schreibt Bauer, dass wenn „in einer Stadt“ zur gleichen Zeit eine „Bevölkerungsgruppe“ eher zum Heiler geht und eine andere zum Mediziner, dann sei das nicht „gleichzeitig“ – „gleichzeitig“ sei nur, wenn die gleichen Menschen beide Heilmethoden akzeptieren. Abgesehen davon, dass dann viele seiner Beispiele aus dem nahöstlichen Bürgertum seine Grundthese gar nicht stützen, denn sehr viele Ḥambaliten akzeptierten weder Schiiten noch Sufis, finde ich Definitionen, die dem Grundsinn des Wortes widersprechen, nicht Erkenntnis fördernd.
Lust
Weil das Buch sich an das große Publikum wendet, greift Bauer oft Kollegen an, ohne deren Namen zu nennen, oder er schreibt von anderen ab, ohne irgendwie anzudeuten, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Zum Komplex mann‐männliche Sexualität und Erotik erwähnt er nur Massad und Klauda, von denen einer gar keine Quellen studiert haben kann, weil er kein Arabisch kann. Dass Everett K. Rowson und Arno Schmitt seit über zwanzig Jahren Grundlegedes dazu geschrieben haben, bleibt genauso unerwähnt wie die Arbeiten von Frédéric Lagrange, Dror Ze’evi und Khaled el‐Rouayheb; letztgenannter hat viel genauer erklärt, wieso verschiedenartige Diskurse zu dem, was wir als éine Sphäre ansehen auf arabisch nebeneinander existieren.
Bemerkenswert auch, dass Bauer, den Hauptgedanken der von ihm erwähnten Bücher nicht versteht: Dass es nämlich im „vorkolonialen“ Denken und Schreiben der Araber weder den Begriff noch das Wort „Homosexualität“ gibt, dass also bei ihnen der Bereich des Lebens, den wir heute als „Sexualität“ bezeichnen, anders strukturiert war.
Massad Public Culture 14(2): 383f.:
Durch ihr Gerede über Homosexuelle, wo es bis dahin keine Homosexuellen gegeben hat, heterosexualisiert die Schwule Internationale (Amnesty International und schwule Menschenrechtsorganisationen) eine Welt, die bis dahin von Homosexuellen und Heterosexuellen nichts wusste. Die Wirkung ist in der muslimisch‐arabischen Kultur alles andere als befreiend: Männer, die bei mann‐männlichem Sex als passiv oder aufnehmend gelten, werden gezwungen, ... sich als homosexuell oder schwul zu identifizieren, und die eindringenden Männer müssen sich auf éine Art von Objekten, Männer oder Frauen beschränken. So werden aus ihnen Heterosexuelle, weil sie sonst in den Begriffen, die ihnen die Schwule Internationale einzig lassen, zu Anormalen werden, mit allen Nachteilen, die das bedeutet..
– Während im modernen westlichen Denken ein Mann einen Mann lieben kann, die miteinander Sex machen, kann im traditionellen, mediterranen, patriarchalischen Denken ein Mann nur mit einem Nicht‐Mann (Tunte, Transvestit, Knabe, Mädchen, Frau) Sex machen (die Unzahl von Verben sind alle transitiv: schlagen, besteigen, reiten, ficken…).
Für zāniya benutzt Bauer das deutsche „Ehebrecherin“ (282), obwohl weder die zāniya noch ihr Partner verheiratet sein müssen, demzufolge keine Ehe brechen – und aus dem Text, wie Bauer ihn uns vorstellt – geht auch nicht hervor, dass die zāniya eine Ehebrecherin gewesen sei. Zugegeben: „Geschlechtsverkehr mit einer Person, mit der man dazu nicht das Recht hat“ ist deutlich länger und holpriger als „Ehebruch“ aber wenn man genau sein will, darf man nicht schlampen.
Bauer bringt das Kunststück fertig, Sexualität als kulturelles Konstrukt aufzufassen („es ist keineswegs selbstverständlich, alle Handlungen und Emotionen, die direkt oder indirekt mit den Geschlechtsorganen verbunden sind, auch untereinader verbunden sind und ein eigener Bereich der menschlichen Persönlichkeit“ bilden), aber Homosexualität als kulturübergreifend darzustellen. Das erreicht er dadurch, dass er zwanzig Mal von einvernehmlichem Sex zwischen Männern spricht, auch von Liebe zu einem Jüngling, obwohl wir doch für den Nahen Osten nur von Vergewaltigungen und Päderastie Kenntnisse haben. Dass Sexualität im Westen als „isoliert von den übrigen Gefühls‐ und Handlungsbereichen“ und „streng getrennt“ (273) angesehen wird, kann ich nicht finden. Noch seltsamer erscheint mir, dass nach Bauer „der Westen“ die Sexualität bewusst geschaffen habe, er spricht nämlich von dem „Projekt [des Westens], eine von allen Bereichen menschlichen Erlebens geschiedene Sphäre der »Sexualität« zu etablieren“ (274). Richtig ist, dass man ein Kraulen der Brusthaare und eine Vergewaltigung zwecks Erniedrigung nicht in einen Topf werfen muss, aber komisch finde ich, dass Bauer nur zwischen Sexualität und Liebe zu unterscheiden weiß; nicht mal zwischen „jemanden für begehrenswert halten“ und „jmd. begehren“ macht er einen Unterschied. Gewiss, um 1965 macht sich ein Mann in der BRD schon verdächtig, wenn er die Schönheit eines Jünglings oder Mannes bemerkte, aber dies ist noch lange kein Begehren oder – was für Bauer das Gleiche ist – sich in einen Jüngling oder Mann Verlieben. Diese Blindheit für Aspekte und Grade der Liebe ist umso bemerkenswerter, als Muslime darüber umfangreiche Bücher verfassten.
Da es Bauer nur darum geht, herauszuarbeiten, dass der Westen den Nahen Osten moralisch verdorben habe, interessiert ihn nicht, ob es zwischen den Liebestheorien der islamischen Gelehrten und der westlichen Denker bezeichnende Unterschiede gibt. Ich jedenfalls halte es für signifikant, dass im Nahen Osten einseitig gedacht wird (ich liebe x, ich begehre x, ich umwerbe x, ich ficke x), im Westen gegenseitig (ich will, dass x mich begehrt, ich sehne mich danach, von x wahrgenommen zu werden, ich will mit x ficken). In der reifen, westlichen Liebe oszillieren die Rollenzuschreibungen, da liebt man/frau nicht nur ein Objekt, sondern man identifiziert sich zweitweise mit Anteilen des Andern, man ist (wenigstens phasenweise) aktiv und passiv. Als historischer Materialist bin ich der Ansicht, dass diese Art Liebe zu denken erst entsteht, wenn Frauen auch im Betrieb und der Politik Chef sein können. Ich habe in meiner Besprechung in inamo darauf hingewiesen, dass Bauers Kronzeuge für sinnenfrohen Sex, der Imām Ghazālī, genau wie Paulus die Askese über die Ehe stellt; Ibn Qaiyim al‐Ġauziya weist eine andere Parallele mit dem Gründer des Christentums auf: Arschficken als Ursache und Folge des Abfalls vom Glauben. Wer Islam und Christentum vergleicht, sollte beides studiert haben; nach meinem Eindruck hat Bauer das eine gar nicht und das andere recht selektiv studiert. Er hat bei diesem Teilstudium vieles entdeckt. Leider schreibt er auch über die Bereiche, die er nicht studiert hat. „Kapitalistisches Konkurrenzdenken (kKD) und einfühlsame Freundschaften sind aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (275)
Mit keinen Wort erklärt Bauer warum gerade das kapitalistische KD mit Freundschaft schlecht zusammen geht oder auch nur wodurch sich kKD von anderem KD unterscheidet. Vorher schreibt er, dass der Araber „als »agonaler Mensch« charakterisiert werden [muß]. Neben den bewafneten Kampf der Sippen und Stämme trat der Wettkampf in der Jagd, im Wettrennen und im Wettschießen. Noch wichtiger war der aber Wettkampf der Dichter“ (254). Der Araber ist also laut Bauer von Kampfdenken durchdrungen. Warum verträgt sich arabisches KD mit Freundschaft, aber nicht kKD?
Bauers Behauptung der Bürger habe die Homosexualität erfunden, um als ganz und gar heterosexuell dazustehen (276), leuchtet mir nicht ein; ich gehe davon aus, dass es in der fraglichen Zeit (grob 1850‐1950) im Bürgertum mehr Homosexuelle gab als in der Arbeiterklasse. Schön auch die Behauptung, dass im 19. Jahrhundert Kapitalismus, Kolonialismus und Psychoanlayse „triumphierten“ (276), obwohl letztgenannte erst im 20. Jhd. entstand. Und dann kommt eine Formulierung, die „die amerikanische Forscher“ der Stammtische lässig toppt: „Es ist mittlerweile gut nachgewiesen, daß die europäische Konstruktion der Sexualität mit dem Imperialismus in einem innigen Wechselverhältnis steht.“ (277) – sorry, „innig“ habe ich reingeschmuggelt, aber sonst ist es doch eine Leeraussage; steht nicht alles mit jedem in einem Verhältnis? „Die Macht des Westens griff nun auf jene fernen, exotischen Welten zu, ... wo ein Sex blühte, der die westlichen Ordnungen des Sexes gefährlich ins Wanken brachte.“ (277) Der Imperialismus schafft also Imperien, um die westliche Ordnung des Sexes vor dem Umfall zu schützen. Da sehe ich noch andere Interessen.
Bauer spricht von „Ambiguitätsdimension“ von Sex bzw. Liebe (278), wo er nach seiner eigenen Definition von Ambivalenz sprechen müsste (38, passim).
„Die wichtigste Ursache für Ambiguität ist die Pluralität der Diskurse“ (268f.) Entweder habe ich Bauer überhaupt nicht verstanden, oder das stimmt so nicht.
Gewiss, verglichen mit heutigen Salafisten waren die Denker des klassischen Islam Rheinländer. So wie katholische Bischöfe am Niederrhein den Kohlenklau für den Eigenbedarf freigaben und den Gläubigen erlauben, gegenüber den Ämtern (Jobcentern) falsche Angaben zu machen, solange Freibeträge und Regelsätze zu niedrig sind, so galt auch in muslimisch geprägten Nahen Osten „leben und leben lassen“, „Fünfe gerade sein lassen“ und „beide Hühneraugen zudrücken“. Oder anders gesagt: Wie der Rheinländer und der italienische Südländer, wusste auch der Levantiner, dass das Gesetz „auf dem Papier steht“, „das Leben aber das Leben“ ist. Aus diesem Blickwinkel ist der von Bauer konstatierte Abgrund zwischen Köln und Kairo gar nicht so tief und nicht so weit.
Merkwürdig auch, dass Bauer die Spannung zwischen zwei wichtigen Grundsätzen völlig übergeht. In tausenden von Büchern stößt man auf al‐ʾamr bi’l maʿarūf wa an‐nahy ʿan al‐munkar (das Gute befehlen und vom Bösen abhalten), womit in Saʿudi‐Arabien die Religionspolizei gerechtfertigt wird. Im klassischen Islam stehen diesem – unbestrittenen Gebot – gleich drei Regeln gegenüber: die trivialste ist die Erkenntnis, dass es nicht großen Mutes bedarf, einen Schwachen auf seine mangelnde Frömmigkeit hinzuweisen (über die der sich ohnehin klar sein dürfte), dass es also darum geht, dem Mächtigen, der seine Kompetenzen überschreitet, in die Schranken zu weisen. Das zweite Gegenmittel ist eine der wichtigsten Tugenden überhaupt: ṣabr (Geduld), was nicht nur Hartnäckigkeit/Beharren, sondern auch Duldsamkeit gegenüber Sündern einschließt. Schließlich gilt: Was Gott mit dem Schleier (saṭr) bedeckt hat, soll der Mensch nicht aufdecken. Es geht also einen gesitteten Bürger nichts an, was im Privaten geschieht; selbst wenn laute Musik aus einem Haus dringt, berechtigt das niemanden, in das Haus einzudringen, um zu schauen, ob dort eventuell Wein getrunken wird. Der Fromme darf zwar seinen Nachbarn deswegen ermahnen, aber ohne ihn bloßzustellen. Üble Nachrede ist eine Sünde gegen Gott und die Mitmenschen.
Anders gesagt: Mir besingt Bauer zuviel die hohe „Ambiguitättoleranz“, buchstabiert sie zuwenig als lebenswirkliche Vielfalt und laissez‐faire aus. Er schaut mir zuviel in die Bücher, zuwenig in die Häuser, Bäder und Gärten.
Seitenlang führt Bauer aus, dass Christen beim Vollziehen der Ehe keinen Spass haben dürfen, ohne das irgendwie zu belegen – das einzige Zitat, das er bringt, geht gegen Empängnisverhütung, nicht gegen Spass dabei.
Und da ich schon bemerkt habe, dass er ein ganz privates verzerrtes Bild von der Kirche hat, habʹ ich bei Kirchenvätern und Scholastikern, und auch in die Beichtspiegel aus meinem Bücherschrank geschaut. Hier das Ergebnis:
„Habe ich gesündigt durch Mißbrauch der Ehe? durch Mißbrauch mit mir selbst? durch Rücksichtslosigkeit? durch Mangel an Opferbereitschaft?“ (Gesang‐ und Gebetbuch, Trier: Paulinus 1955. S. 615)Selbst bei den Fundamentalisten ist nur von Empfängnisverhütung die Rede, nie von unerlaubter Lust in der Ehe.
„Habe ich die Pflichten der Ehe verletzt?“ (Schott, Messbuch, Anhang, Freiburg; Herder, 1929 – 1966 unverändert)
„Achte ich die persönliche Würde meines Ehepartners? Bemühe ich mich, daß unsere Liebe zueinander wächst? Oder war ich eigensüchtig, rücksichtslos, nachtragend, zu empfindlich?“ (www.herzmariens.de/Texte/beichte/erwachs.htm)
„Suche ich die Person meines Ehepartners oder sehe ich in ihm nur ein Mittel zur eigenen Befriedigung?“ (Gotteslob)
Bauer macht viel daraus, dass im Westen mit der Natur für und gegen bestimmte Formen des Sexes argumentiert werde, die Natur sei die Hure der Moral, im Islam gebe des dergleichen mit ṭabīʿa nicht. Vielleicht sollte er mal unter fiṭra oder ḫalq nachgucken.
Kein Lekorat
Komisch, dass bei Bauer einmal die Jurisprudenz vor aš‐Šāfʿī „an der Tradition des Propheten ausgerichtet“ war (42) und ein ander Mal es Šāfʿīs Werk war, „das Prophetenḥadīth als Rechtsquelle“ zu etablieren (159). Hat er da zwei unterschiedliche (ungenannt bleibende) Quellen zu Rate gezogen? Nach meinem Verständnis hat die zweite Recht: Vor aš‐Šāfʿī hat man sich an der Praxis der Gemeinde, dem Koran und vernünftigen Argumenten ausgerichtet.
Falsche Ausdrücke, Wiederholungen, schiefe Bilder stören – der Verlag hat wohl am Lektorat gespart. Sonst hätte etwa Abū‐Ḥanīfa den Bindestrich verloren. Mir sind auch viel zu viele „bekanntlich“s, „also“s, „offensichtlich“s und „zweifellos“e drin. Verglichen mit anderen deutschen ProfessorInnen schreibt Bauer schön, doch es ginge auch mit weniger Englisch und Latein.
Köstlich sind Formulierungen wie „Unnötig zu sagen, daß“ (270). Bezeichnender ist, dass Bauer „Ideologie“ für „ambiguitätsfeindlich, klar und totalitär“ (52, 58) hält – ohne den Begriff zu definieren oder eine Quelle für dieses Verständnis des Wortes anzugeben. Dass Marx den Begriff als Verschleierung ungerechter Verhältnisse und als Rechtfertigung von (Klassen‐)Interessen charakterisiert, ist ihm nicht bekannt
gharīb
Ein ganzes Kapitel widmet Bauer den Fremden im Islam bzw. bei Arabern. Er sagt, dass es im klassischen Arabisch weder den Begriff noch die Vorstellung von Fremden gegeben habe. Er behauptet, dass Fremdheit im Arabischen nicht objektiv von außen gedacht ist, sondern als „emotionaler Mangel im sich fremd fühlenden“, dass Fremd‐Sein „durch kein Wort ausgedrückt werden“ kann. (347) Bauer ist hier auf seinem Gebiet und er hat das ausführlich studiert, aber ich glaube es trotzdem nicht. Das gleiche Wort (gharīb) wird nämlich nicht nur auf Menschen angewandt, sondern auf alles mögliche, zum Beispiel auf Worte im Koran, und von denen glaube ich nicht, dass sie sich in ihrer Umgebung nur fremd fühlen; im Wörterbuch steht: seltsam, auffallend, ungewöhnlich, wunderlich, eigenartig, sonderbar, grotesk, schwer verständlich, dunkel, entlegen, ausgefallen, gekünstelt, maniriert. [Noch zweimal wäre das Wort in anderem Kontext von Bauer zu nennen: Ein Muḥammad-Spruch, der nur von einem übermittelt wird, heißt so (und nicht wirklich shadhdh wie Bauer schreibt), und ein Soldat, der aus einem anderen Regiment abkommandiert wird, mag sich zwar fremd fühlen, aber der wird vor allem wie ein Fremder behandelt.]
Heute zumindest benutzen die Araber Jerusalems das Wort genau wie wir, wenn sie von Fremden reden, manchmal benutzen sie auch al‐Khalaila (die Hebroner), so wie ein Bayer von „Preißen“ spricht; der Bewohner Marrakeschs hat ein bemäntelndes und ein klares Wort für den Zugezogenen: Marrakschī (denn er selbst heißt nach dem Beinamen „die Prächtige“ Bahjawī) und Barrānī (der Auswärtige). Besonders „freundlich“ ist die ramallahesische Bezeichnung Tailandi für einen Gastarbeiter aus dem Norden der Westbank oder die Bairuter für Dienstmädchen gleich welcher Herkunft: Srilankiya. Wem das nicht klassisch genug ist, Barbar/ʿajamī ist es gewiss. Man muss schon eine sehr rosa getrübte Wahrnehmung haben, wenn man ernsthaft meint, der „klassisch‐islamische“ Araber sei ohne Ausgrenzung ausgekommen. Nur lief bei ihm die Abgrenzung eher über Verwandtschaft (fremdstämmig aǧnabī) und über Religion (andersgläubig, ungläubig, ketzerisch kāfir).
Bauer klammert die Frühzeit aus, weil er "den" Vielfalt‐duldenden Islam besingen will, in dem es weniger ja‐nein gibt als sowohl‐als‐auch, weniger richtig als wahrscheinlich. Nun ist es aber so, dass die Dogmatiker immer und überall – oder vorsichtiger gesagt: im Westen wie im Nahen Osten – eher auf ja‐nein beharren und die Juristen sich überall mit Mit‐an‐Sicherheit‐grenzender‐Wahrscheinlichkeit zufrieden geben.
Indem Bauer die Frühzeit, in der Glaubensfragen eine große Rolle spielten, links liegen lässt, und díe Epoche herausstellt, in der Juristen den Ton angaben, erscheint der Islam als weicher. Die vielen Fälle, in denen in Bauers Mittelalter Gelehrte ins Gefängnis kamen, wegen schiʿitischer, anthropomorpher oder sonstiger Abweichungen, lässt er – natürlich – unerwähnt. Auch sonst ist er selektiv blind. Die Muʿtaziliten, „angeblich rationalistische“ Lieblinge des Westens, seien „rigoros“ für die ewige Hölle gewesen, wo hingegen beim sunnitischen Hauptstrom alle Muslime im Paradies Sex haben. Das Argument der Muʿtazila unterschlägt er: Wenn ein Christ wegen der Sünde des Unglaubens ewig brennen muss, dann ist es doch nur gerecht, dass ein Muslim wegen unbereutem Lustmord ewig bestraft wird. Er tut so, dass die Rationalität der Muʿtazila nur orientalistische Propaganda war, und den Wert von Gerechtigkeit gegenüber göttlicher Tyrannei erkennt er nicht. Er tut auch so, als habe man im postformativen Islam alles und jedes unglauben dürfen. Die Lockerheit in manchen Fragen herauszustellen ist Bauers Verdienst. Leider übersieht er, dass diese Lockerheit auf der sicheren Stellung seiner Protagonisten, den männlichen, sunnitischen Gelehrten, Bürokraten und Herrschern, beruht und darauf, dass das Dogma/ʿaqīda jeder Kritik entzogen ist, und das ist eine ganze Menge: Gott ist der allmächtige, ewige Schöpfer und Erhalter der Welt, alle menschlichen Handlungen hat er geschaffen, Muhammad ist der letzte seiner Gesandten, der Koran sein ungeschaffenes Wort, es gibt Engel, Geister, Offenbarungsbücher, das Jüngste Gericht, Hölle und das Paradies, die ersten drei Kalifen waren rechtgeleitet … Während es in der formativen Phase noch Manichäer und Skeptiker gab, und während man im modernen Europa Alles in Frage stellen kann, war das im Nahen Osten durchaus anders. Natürlich unterschlägt Bauer, dass das Dogma zu akzeptieren ist, ohne es verstehen zu wollen (bilā kaif), und dass nach Ibn Ḥambal das Offenlassen von Glaubenspunkten noch schlimmer ist, als Falsches zu glauben. Nur so kann Thomas Bauer die Position heutiger saʿudischer Gelehrter als völlig von der Tradition abgeschnittene, westliche Haltung – wenn auch mit anderem Inhalt – darstellen. Er macht des Guten zu viel.
Zur Umschrift
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich bei der Umschrift versuche, die arabische Hochlautung wiederzugeben und nicht die Schrift. Die Wiedergabe der Schrift (Transliteration) ist nur dann sinnvoll, wenn die Leser mit der arabischen Schreibung vertraut sind, aber arabische Lettern technisch nicht zur Verfügung stehen; für Bibliothekare empfehlen einige ein Mischsystem. In allen anderen Situationen führen nur Dummheit oder gedankenloser Traditionalismus zu inkonsequenten Umschriften, wie Ḥanbal obwohl Ḥambal gesprochen wird ([mb] wird auf Arabisch immer nūn + bāʾ geschrieben und „unbewegtes“ nūn + bāʾ wird immer [mb] gesprochen). Bauer liefert viele Beispiele inkonsequenter Umschrift. Der Gipfelpunkt der Verschmocktheit: „ich füge den arabischen Text hinzu; um einen akustischen Eindruck vom Klang des Originals zu bekommen, muß ... ‐an als ā ausgesprochen werden.“ (120). Warum schreibt er dann nicht ā – zumal im Arabischen ā geschrieben wird? Noch ein Beispiel: gharībun bi‐hādhihī l‐bilādi ghurbataini (344); am Ende von hādhihi ist weder ein ī/yāʾ geschrieben, noch wird hier ein langes ī gesprochen. Ich weiß, dass Bauer nicht der einzige deutsche Orientalist ist, der so verfährt. Dennoch ist es grottenfalsch.
Soweit meine Besprechung in inamo 70, Sommer 2012
Jetzt noch ein Abschnitt aus einem Vortrag, den Lutz Berger 2018 in Würzburg gehalten hat, den man ganz im Netz findet (plus meinem Einschub über nordisches Klima)
Ich glaube, es ist in diesem Kontext wichtig, die Felder, in denen Ambiguitätstoleranz postuliert wird, in den Blick zu nehmen. Ambiguitätstoleranz herrschte im Bereich der Einzelfragen der Religion, vor allem soweit diese politisch ungefährlich waren, vielleicht im Bereich der Sexualität, soweit sie nicht erbrechtlich relevant war, in einer Literatur, die nicht unbedingt als littérature engagée angesehen werden kann. Die Freude am sprachlichen Spiel, der Stolz auf besonders eleganten Ausdruck, am Überraschenden ist gerade da besonders groß, wo die elegante Form im Mittelpunkt stehen kann, wo man l'art pour l'art betreibt und nicht die Notwendigkeit der Übermittlung einer Botschaft die Freude an der Form erstickt. Alles, was mit politischer Macht, mit Besitz, mit sozialem Status zu tun hatte, war keinesfalls Gegenstand einer besonderen Toleranz gegenüber Zweideutigkeiten. Die strikte Trennung von männlichen und weiblichen Sphären, von der oben bereits die Rede war, diente der Vermeidung jedweder Ambiguität in Hinblick auf Unterhalts- und Erbansprüche.
Ich würde daher postulieren, dass die Freude an der Ambiguität und die Vielzahl der Felder, in denen sie zum Ausdruck gebracht werden konnte, etwas zu tun hat mit der Trennung der Sphäre der Intellektuellen und Gelehrten, die Bauer untersucht, von der der politischen Macht, die er nur am Rande behandelt. Ambiguitätsfreude der Intellektuellen ist Ausdruck des weitgehenden Fehlens einer überregionalen politischen Öffentlichkeit, einer gelehrten Debatte über Macht und Politik. Über Machtfragen entschied in der Regel das Schwert, nicht die öffentliche Meinung der Gelehrten.
Die Bereitschaft, in politisch relevanten Fragen Meinung und Gegenmeinung öffentlich und gleichberechtigt nebeneinanderzustellen und die damit zusammenhängende Ambiguität auszuhalten, war, soweit ich sehe, in vormodernen Gesellschaften generell, jedenfalls aber in den islamischen Gesellschaften der Epoche, die Thomas Bauer in den Blick nimmt, selten so groß wie in der klassischen europäischen Moderne, die doch in unserer Postmoderne gemeinhin gerade auf Grund ihres Drangs nach Eindeutigkeit kritisiert wird. Was könnte von größerer Toleranz gegenüber widersprüchlichen politischen Wahrheitsansprüchen zeugen als das so moderne Konzept von „Her Majesty's loyal opposition“?
Ist Ambiguitätstoleranz ein spezifisch vorderorientalisches Phänomen?
Ich würde auf den ersten Blick die These unterstützen, dass im Vergleich mit westeuropäischen Gesellschaften vorderorientalische tendenziell uneindeutiger waren. Das ergab sich daraus, dass dort in der Vormoderne zentrale und strukturierte Institutionen der Normierung von Denken und Verhalten fehlten. Es gab keine Kirche, schon gar keine Inquisition, der Unterricht war lange Privatsache und blieb dauerhaft viel stärker von den selbstbestimmten Interessen der Ler­nenden geprägt als im Westen. Was die höheren Studien angeht, än­derte sich das in der Osmanen­zeit bald nach 1500, aber nur für die, die im Staatsdienst Karriere machen wollten.
Was für die intellektuelle Welt galt, galt auch für die Gesellschaft als Ganzes: Eine Stände­ordnung, die jeden in einen vorgegebenen Le­bens­weg zwang, bestand nicht. Natürlich konnte nicht jeder vom Teller­wäscher zum mächtigen Günstling des Herrschers aufsteigen. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die soziale Ordnung deutlich offener war als in Alteuropa. Das Konzept der Privat­heit, das einem jeden die Möglichkeit gab, in seinem eigenen Bereich zu leben, wie er es für richtig hielt, verbunden mit dem Respekt vor den privaten Lebenentscheidungen einzelner, war deutlich stärker entwickelt. Un­terschied­liche religiöse Gruppen lebten nebeneinander – sicher mit klarer Rangordnung, aber doch deutlich spannungsfreier als in Westeuropa vor dem 18. Jh. All das schuf Voraussetzungen für Ambiguitätstoleranz, die in Westeuropa so nicht existierten.
Einschub Arno Schmitt: In Nord- und Mitteleuropa schliefen Herrschaft und Gesinde, Männer, Frauen und Kinder – oft auch Tiere – im gleichen Zimmer – beim einzigen Feuer, über oder neben dem Stall. Im Mittelmeerraum und beim Golfstrom war es einfacher, Einzelzimmer zu bewohnen.Aber können wir mit dieser These sicher sein? Können wir Ambiguitätstoleranz objektiv messen? Ließen sich nicht, suchte man aktiv danach, zahlreiche Beispiele für Ambiguitätstoleranz auch in der alteuropäischen Kultur anführen? Waren westliche Reisende der Mongolenzeit von Wilhelm von Rubruk bis Marco Polo weniger unaufgeregt als Ibn Fadlân? Konnten Geist­liche der mittel­alterlichen Kirche sich nicht für die Literatur der heidnische Antike begeistern oder unzüchtige Vagantenlyrik verfassen? Waren im Hause des christlichen Gottes nicht auch viele Wohnungen, so dass die Pracht der Benediktiner neben der Armut der Franziskaner stand?
Auch hier haben historische Materialisten einen anderen Blick auf Phänomene der sozialen und der geistigen Welt als Idealisten.
Oder, um den Blick fort von Europa nach Ostasien zu wenden: Finden sich nicht in den Literaturen Chinas und Japans zahllose Beispiele für bewusste Unklarheit und Doppelbödigkeit, die denen der muslimischen Literaturen in nichts nachstehen?
Wenn wir von Literatur sprechen, können wir die Frage stellen, ob logische Stringenz in Handlungsablauf und Charakterzeichnung in vormodernen Literaturen auch des europäischen Mittelalters stets eingefordert worden ist. Hat man nicht hier oft Unklarheit und Zweideutigkeit toleriert, einfach, weil die Idee der logischen Stringenz von Erzählung genauso wenig zwingend ist wie die perspektivische Darstellung in der Malerei.
Gleichviel: Vormoderne Kulturen, so möchte ich in aller Vorsicht formulieren, haben eine Tendenz, bei der Beschreibung der Welt uneindeutig zu sein. Die dauernde Einforderung von Eindeutigkeit, Normierung, Rechenhaftigkeit und das Streben nach dem Aufweis klarer Kausalbeziehungen in allen Bereichen von Weltbeschrebung und -erklärung ist zweifelsohne ein Phänomen der westeuropäischen Moderne genauso wie ihres nahöstlichen Gegenstücks und unterscheidet beide von den Epochen davor. Die westeuropäische Moderne ist allerdings beim Beschreiben und Beherrschen von Welt erfolgreicher als die Moderne des Vorderen Orients, weil sie seit dem 17. Jh. die Vorläufigkeit jeder eindeutigen Beschreibung angenommen hat: ein zutiefst ambiges Konzept. Die Menschen im Vorderen Orient haben Moderne seit dem 19. Jh. auch als Kontrollverlust wahrgenommen. Sie waren daher schlechter in der Lage, die Ambiguität, die darin liegt, dass man einerseits exakt beschreibt, erklärt und normiert, andererseits die Ergebnisse dieses Prozesses immer nur für vorläufig hält, zu ertragen.
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