Meine Kernaussagen:
DEN
rasm ʿUṯmānī gibt es nicht, sondern mehrere.
DEN Standard für Koranausgaben gibt es nicht, sondern mehrere.
Und so richtig gibt es Standards erst, seit es Druckausgaben gibt.
Gewiss, westafrikanische Handschriften glichen einander,
osmanische Handschriften glichen einander,
persische waren zueinander ähnlicher als zu osmanischen und indischen.
Indische Handschriften glichen einander,
nordindische mehr nordindischen, ostindische mehr ostindischen,
westindische mehr westindischen, südindische mehr süd
indischen.
Aber erst dank des Drucks konnten nicht nur wenige Reiche und Gelehrte
mehr als eine Ausgabe besitzen; erst seit viele einen hatten, verglich man
sie und störte sich an kleinen Unterschieden.
Erst der Druck schuf den Druck zur Standardisierung.
Erst seit fünfzig Jahren haben wir richtige Standards.
Der Maghreb und Indien haben schon lange von Gelehrten ‒ nicht einer Behörde,
einer mächtigen Kommission ‒ entwickelte Standards.
Persien und das osmanische Reich hatten Schreibtraditionen mit etwas
Bandbreite, mit etwas Spiel.
Auch wenn seit Bergsträßer immer wieder ‒ bis heute ‒ Orientalisten den Gizeh-Druck
von 1924 als Standard bezeichnen, ist er das nicht.
Gewiss seit Saudi-Arabien einen dem 1952er "Zweitdruck"
‒ der an über 900 Stellen vom "Erstdruck" abweicht ‒
von ʿUṯmān Ṭāhā nachgeschriebenen
muṣḥaf
millionenfach nachdruckt, gibt es einen ostarabischen Standard ‒ neben dem türkischen,
dem des iranischen Zentrums für Druck und Verbreitung des Korans, neben den indonesischen (von 1983, 2002 und 2018),
sowie dem zahlenmäßig dominierenden indo-pakistanischen.
Und gleich noch eine Kernaussage:
Es gibt zwar ZWEI HAUPTstandards, den afrikanischen und den asiatischen,
aber man kann auch von Tausenden ausgehen,
denn die vielen Dimensionen der Verschriftlichung sind frei kombinierbar:
‒ Klanggestalt (Lesarten, Verschriftlichung der Vortragsregeln),
‒ Buchstabengerüst
(rasm plus diakritische Punkte, Quranic Conmmon Text (QCT),
cf. ad-Dānī:
al-Muqnī),
‒‒‒ manchmal fokusiert man den
rasm pur, meist aber kann man ihn gar nicht
von den Punkten trennen, ohne diese hat er ja keinen Sinn. Punktierung wird bei den
Lesarten berücksichtigt, da geht es ja nicht nur im Vokale und Buchstabenverdoppelung,
sondern auch um ṭ <> ẓ, ṣ <> ḍ, ʿ <> ġ, b/t/ṯ/n/y, r <> z, f <> q
‒ die Notation stummer und die verkürzter Vokalbuchstaben, sowie die langer Vokale,
‒ Einteilung plus Pausen
(ǧuz, ḥizb, ruquʿ, Siebtel, Seite, Vers, Pausensystem, Pausenstellen,
Bekräftigung, Niederwerfung {im Text, am Rande}, Kustode),
‒ Graphisches (wieviel Zeilen je Seite, ein Duktus für den Text, einer für die Basmala, einer für die Surentitel,
Ziffern im Text oder am Rand).
Selbst Experten gehen einfach davon aus, dass man vom Duktus auf die Lesart schließen könnte,
oder von der Lesart auf die
rasm-Autorität.
So ein Quatsch!
Sie schreiben von »version du Caire« oder »version du Maroc« statt von der Lesart-Überlieferung
Ḥafṣ bzw. Warš oder von der Schreibung nach Ibn Naǧāḥ oder ad-Dānī oder der "iranischen vom
Zentrum für Druck und Verbreitung"
oder der "neuen indonesischen" oder von "ʿUṯmān Ṭāhā II, also Kairo1952 in der neuen Fassung des König-Fahd-Komplexes".
Gewiss die verschiedenen Dimensionen machen allein keinen
muṣḥaf, aber wenn man verschiedene vergleicht, sollte man sich bewusst sein, WAS man vergleicht, dann sollte man das, worauf es (einem) ankommt und das Beiwerk deutlich unterscheiden.
Also nochmal: der
rasm, das unpunktierte Buchstabengerüst ist ‒ abgesehen von 40 Stellen und einigen Vokalbuchstaben ‒ immer gleich.
Differenzen beschränken sich weitgehend auf ya- statt ta- (oder nu-), fa- statt wa-,
šadda oder nicht, Passiv oder nicht.
Bei den Langvokalen geht es meist nur um verschiedene Schreibung des gleichen Lautwertes.
Wirklich immer gleich sind die 114 Suren, auch wenn es unterschiedliche Namen gibt ‒ aber immer in der gleichen Reihenfolge.
2018 verglich Marijn van Putten 23 Stellen im Kairiner Druck mit alten Handschriften
und stellte fest, dass die meisten die gleiche Verteilung von
niʿamt Allāh mit
tāʾ mamduda und mit
tāʾ marbuṭa haben.Hätte er das mit den 23 Stellen in einer beliebigen maghrebinischen, indischen, indonesischen oder türkischen gemacht, wäre er zu dem gleichen Ergebnis gekommen.
Nur weil er eine bestimmte Ausgabe als "Standard" mit den Handschriften verglich, bestätigte er quasi ihr Standard-Sein.
Ganz nebenbei: Nicht an allen 23 Stellen steht
niʿamt Allāh.
Noch 1960 dominierte eine osmanische Vorlage den syrischen Markt. Noch 1980 druckten drei arabische Staaten eine andere osmanische Vorlage nach. Der ʿIraq noch zwei weitere. Inzwischen ist das Geschichte.
Heute schreiben nur noch Azerbaidschan und die Türkei osmanisch,
wobei die Türkei einige Veränderungen vorgenommen hat:
u.a. wurde die Unterscheidung von Madda im Wort und an der Wortgrenze getilgt:
was nicht mehr so nötig ist, seit die meisten Drucke Wortabstand haben,
ferner wurde das
waṣl-Zeichen getilgt ‒ sei es dass man sich in der Behörde wunderte, dass es
mal steht (wie in Kairo), mal fehlt (wie in Indien), sei es, dass sie merkten, dass es nur steht,
wenn
ḥārf sākin folgt (meist ein an den nächsten Konsonanten assimiliertes
lām; es
folgt also ein Buchstabe mit
sukûn oder ein
lām vor einem Buchstaben mit
šadda)
‒ da es regelhaft stand, kann man es weglassen.
Schließlich bekamen alle Drucke die genau gleichen Seiten. Böse gesagt, besteht
für die heutigen Türken der Koran nicht mehr aus 114 Suren bzw. 558 Gebetseinheiten,
sondern aus 605 Seiten.
Hier bin ich sicher, dass HO2 das nicht zweimal geschrieben hat,
aber auch die ältere Fassung ist nicht 100% die Handschrift.
Schon im älteren Druck sind die VersNummern eingefügt und die
ihmal-Zeichen und
waṣl-Zeichen getilgt.
Die neuen Herausgeber stellen die neuen türkischen Normseiten her,
ayat berkenar ist nicht mehr genug; es muss immer das gleiche sein.
Im Orignial stehen die Vokalzeichen nur in der richtigen Reihenfolge, nicht genau beim Buchstaben:
Am Beginn von Ṭaha 94 sieht man zweilerlei:
1.) Die Türken vereinheitlichen alles:
Wenn nicht überall
waṣl steht, kommt es
überall weg!
Wenn unter einigen
wau-hamza qṣr steht, kommt es
überall hin,
wo
wau-hamza nicht sowohl
ḥarf al-madd und hamza-Träger ist.
Ḥasan Riḍā und Muḥ Amīn ar-Rušdī (2. und 4. Zeile, jeweils iraqische Ausgaben,
die außer Versnummern und Surentitel nichts verändern) haben es nicht gesetzt,
weil sie keine Gefahr sahen, dass man es /ūʾ/ lesen könne.
1a) Diyanet tilgt alles, was es nicht versteht.
In der obersten Zeile (die 14. Auflage eines Nachdrucks von Hafiz Osman, 1987) steht das
waṣl-Zeichen noch, das man deutlicher in der dritten Zeile (Hafiz Osman Original) sieht ‒ heute ist es weg.
Sie haben nicht mehr verstanden, dass es an das (fehlende)
alif-waṣl von
Ibn erinnern soll.
2.) Die Türken nähern sich dem saudischen Standard ‒ stillschweigend ‒ an.
Jetzt schreibt man wie ad-Dānī es vorschreibt: drei Wörter als ein Wort,
was aber völlig okay ist. Zumindest im 1309er (hiǧri)
muṣḥaf hat Hafiz Osman Junior selbst schon in einem Wort geschrieben.
Diyanet macht oft nur eine Collage, verschiebt auch Zeichen oder tilgt ein alif.
Sie bringen aber auch eine Ausgabe im Computersatz heraus:
Hier die erste Zeile des letzten
ǧuz im Vergleich:
aus dem letzten von Hafis Osman Qayşzade geschriebenen
muṣḥaf (heute in University of Michigan),
aus der Ausgabe Diyanet 2018
aus der südafrikanischen Taj-Ausgabe (mit 13 Zeilen je Seite,
        Waterval Islamic Institute, Johannisburg)
aus ʿUṯmān Ṭaha Medina
In the first and in the last line there is no extra space between words.
In the Ottoman text (first line)
nabaʾi has a silent
alif
(silent because
bāʾ has a normal
fatḥa ‒ not a straight one).
Nethertheless, both
rasm and sound are identical in all editions.
Mit etwas mehr Kontext, erst zweimal von HO Senior, dann zweimal vom Junior ‒ erstes und viertes aus Drucken, die mittleren aus Handschriften ‒ die ersten drei Original, die letzte Zeile bearbeitet..