Sonntag, 15. September 2019

Begegnen Neuwirth (= Angelika Kleinknecht)

Die „Standardausgabe“ von 1924/5 hat keinen Titel. Bayerische und Preus­sische Staats­biblo­thek sowie die FU Berlin setzen sie als „[al-Qurʾān]“ an. „Amticher ägyp­tische Q.“ und „König-Fuʾad-Aus­gabe“ sind übliche Be­zeich­nungen. Kairi­ner Buch­händler nannten sie „der 12-Zeilige مصحف ١٢ سطر“. (Die Šamarli-Aus­gabe hieß „der 15-Zeilige“, woran man deren Bedeu­tung erkennen kann – die Aus­gaben von Muṣṭafā Naẓif und von ʿUṯmān Ṭāhā sowie der Azhar-Muṣḥaf (1969-79) haben auch 15 Zeilen je Seite.) Im Inter­net findet man sie meist als مصحف المساحة auch als مصحف المساحة والاميریة oder Egyptian Survey (Authority) Qurʾān also als "Grund­buch­amt­quran". Auch "Koran der Amīriyya" ist ein ge­läufiger Name.

Da Begegnen Neuwirth schon Professorin ist, braucht sie sich nicht an die Regeln wissen­schaft­licher Titel­anset­zung zu halten, die ver­langen näm­lich eckige Klam­mern um ange­nom­menen, er­schlos­sene, selbst kre­ierte Titel, Titel also, die man weder auf dem Buch­um­schlag, noch auf einer Titel­seite finden kann. Wissen­schaft­lich han­delt es sich um „[al-Qurʾān]“. Neu­wirth aber nennt ihn mal „Al-Qur‘ân al-Karîm, Kairo 1925“ (Der Koran als Text der Spät­antike, Berlin: Suhr­kamp 2010. p. 30, auch p.261) mal „Qur‘ân karîm 1344/1925“ (ebd. p. 273). Neu­wirths Erschei­nungs­jahr könnte stimmen, ob­wohl biblio­graphisch maßgebend ist, was das Buch selbst von sich behauptet: 1924. Es steht aber IM Buch SELBST, dass sein Druck "am 7. Ḏul­ḥigga 1342 (= 10.7.1924) ab­ge­schlos­sen" worden sein.
Wie kann im Buch vom Ab­schluss des Druckes so genau berichtet werden? Es kann nur der Druck des qurʾānichen Textes gemeint sein. Die Nach­richt darüber kann aber erst danach gesetzt worden sein, der ganze Anhang erst danach gedruckt. Druck des gesamten Werkes und erst recht die Bindung kann eigent­lich erst 1925 abge­schlossen worden sein ‒ was auch die Blind­prägung in Bergsträßers Band nahe­legt.

Besonders schön ist folgende Fest­stellung der Pro­fessorin:
der „ver­schrift­lichte[] Koran­kodex, muṣḥaf, [wurde] durch … Über­liefe­rung durch die Jahr­hunderte weiter­tra­diert …, um schließ­lich im letzten Jahr­hundert, im Jahre 1925, in die Form eines ge­druck­ten Textes ein­zu­gehen." Der Koran als Text der Spät­antike, Berlin: Suhr­kamp 2010. p. 190
In der von ihr auto­risier­ten ameri­kanischen Aus­gabe (Ange­lika Neu­wirth, The Qur’an and Late Antiquity, New York: Oxford UP 2019. p. 110) heißt es: "the written Qur’an codex, muṣḥaf, … was handed down through the cen­turies by tra­dition … until finally, it merged in the year 1925, into the form of a printed text."
"in order to be finally, in the last century, exactely in 1925, to be trans­formed into a printed text" wäre näher am Ori­ginal.
Dies lesend dachte ich, Neuwirth sei komplett ver­rückt geworden. Jeder Student der Geschichte des Korans hat Victor Chau­vin gelesen oder min­destens Hart­mut Bob­zin (oder Schulze oder Puin).
Wo sie studierte, in München, gibt es über zwanzig Koran­drucke aus der Zeit vor 1924.
Als sie ihr Opus Magnum schrieb, gab es schon Inter­net, worin man hun­derte Drucke, die Biblio­theken in London, Berlin, Oxford, Amster­dam bereithalten, finden kann.
Seit 1830 gab es viele Drucke in muslimi­schen Ländern, seit 1870 sehr viele ‒ und von hoher Qualität.
Ich hielt Begegnen Neuwirth für völlig gaga, bis ich eine Fuß­note von Gabriel Said Reynolds las. In der "Intro­duction" zu The Qur'ān in its His­to­ri­cal Context, Abing­don: Rout­ledge 2008 schreibt er
the standard Egyptian edition of the Qur’an, first pub­lished on July 10, 1924 (Dhu l-Hijja 7, 1342) in Cairo, … was the not the first printed edition of the Qur’an, which was instead that com­mis­sion­ed by Muhammad ‘Ali in Egypt in 1833
Dass Gizeh 1925 ‒ fälsch­lich auch "Kairo 1925" ‒ nicht die erste ge­druckte Ausgabe ist, schien mir, bis ich diese Fuß­note las, für so selbst­verständ­lich wie, dass es manchmal in London regnet und im Winter in Moskau schneit: nicht er­wähnens­wert! Doch Reynolds wusste es nicht, bis er den Artikel "Printing" in der Ency­clo­pe­dia of the Quran gelesen hatte, dem er ent­nahm, dass der erste Druck eines ägyp­tischen muṣḥaf 1833 erfolgt sei ‒ was aber aber Unsinn ist; es gab allen­falls den Druck eines kleinen Aus­zugs!
Ferner: Während die Laut­gestalt wohl durch die Jahr­hunderte von Leh­rer zu Schüler weiter­gereicht wurde, geschah das – zu­mindest in Ägypten – nicht mit dem Kodex. Die KFA basiert weder auf den ältesten Manu­skrip­ten, noch auf den jüngsten; sie basiert laut Berg­sträßer auf dem aus­wendig gewuss­ten Text und Werken von anda­lusi­schen Ge­lehrten. Oder schlicht auf marok­ka­ni­schen Aus­gaben ohne die Warš-Be­son­der­heiten.
begegnen
Warum muss ich kotzen, wenn ich Texte von Begegnen Neu­wirth lese?
Das Wort, wie sie es gebraucht, ist Jargon so wie das waid­männische "Losung".
In der Orientalistik ist es jüngsten Datums.
Bergsträßer verwendet das Wort überhaupt nicht.
Vollers verwendet es korrekt, "Die syn­tak­tischen Unterschiede, die uns ... begegnen," "die Form, die uns im Qorân fünfmal begegnet".
1977 kannte das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache das neuwirthsche "begegnen" noch nicht. Dass es neben dem ursprüng­lichen reziproken
einander begegnen
mit jemandem zufällig zusammen­treffen; jemanden zufällig treffen
schon das transitive
jemandem, etwas begegnen
etwas antreffen, auf etwas stoßen
und die instransitiven
widerfahren (so etwas ist mir noch nie begegnet)
sowie
auf etwas in bestimmter Weise reagieren (einer Gefahr mutig begegnen)
gibt,
reicht völlig.
Es muss nicht auch noch das neuwirthsche absolute Verb geben.
Kein Wort muss alles bedeuten.
Kein Wort sollte mit einer zusätzlichen Bedeutung ver­sehen werden,
wenn man das schon auf zig andere Weisen sagen kann.

Nur um sich vom gemeinen Volk abzu­setzen,
hat Begegnen Neuwirth aus dem korrek­ten Gebrauch
parfumierte Scheiße gemacht.
Warum sage ich das?
Weil es nur dazu dient, Duftmarken zu setzen.
Die meisten ihrer Sudent*innen machen es ihr nach!
Wenn es nur eine Verrückte wäre, die sich inter­es­sant macht,
hielte ich meinen Mund.
Weil es aber Kohorten von Lemmingen gibt,
melde ich mich zu Wort.
Es gibt einen korrekten Gebrauch, den Dummköpfe "verfeinert" haben:
Zum andern begegnen wir einem Neutrum altenglisch brēost, altsächsisch briost und altfriesisch briast.
Stefan Speck in Quora
So ist es richtig. Bei Neuwirth ist es Sch..ße.

Nach meinem Sprachempfinden ist Alles was A. Bege­gnen Neu­wirth schreibt,
Losung.
Etwa "Die Sure ist Einheit." (zig mal).
Deutsch ist das nicht.
Die Sure ist eine Einheit
und
Die Sure ist einheitlich.
sind deutsch.
A. Begegnen Neuwirths Satz ist schlicht falsch.
Was sie sagen will:
Keine Einschübe.
Spätere Einschübe gibt es nicht.
Die Sure ist aus einem Guss.
oder ‒ ganz unbegegnenneu­wirthisch formu­liert ‒:
Einschübe habe ich keine festgestellt.
Einschübe sind mir nicht aufgefallen.


Und noch Mal:
Wenn man im Internet einen chrono­logischen Koran publiziert, über­setzt und kom­mentiert,
muss man eine Sure so oft ab­drucken, wie sie gekürzt oder er­weitert wird,
nicht nur einmal (das erste Mal),
und dort erwähnen, was später alles dazu­kam.
Wenn man ‒ wie Begegnen Neu­wirth ‒ davon ausgeht,
dass der Koran nicht aus Versen besteht,
sondern aus Suren,
dann ist eine veränderte Sure,
neu in der Chrono­logie zu platzieren.
Nur so bekommen die Leser einen Eindruck von dem neuen Stadium,
dem neuen Umfeld von frisch geoffenbarten (frisch ver­kündeten/ neu be­arbei­te­ten) Suren.

Nachtrag im Zeitalter der KI:
der CoPilot:
Ja, das scheint der Kern der Sache zu sein! Es wirkt eher wie eine stilistische Entscheidung, die einen akademischen oder „gehobenen“ Ton erzeugen soll, ohne unbedingt präziser oder dichter zu sein als einfachere Formulierungen wie „kommen vor“. Solche sprachlichen Eigenheiten findet man oft in geisteswissenschaftlichen Texten, wo eine gewisse Ausdrucksweise Teil des Fachjargons wird – manchmal wohl mehr aus Gewohnheit als aus echter Notwendigkeit.
Vielleicht auch ein Versuch, das Auftreten eines Begriffs als etwas Bedeutungsvolles zu inszenieren, als ob diese Erscheinung nicht bloß existiert, sondern fast „eine Begegnung“ mit der Interpretation darstellt. Ob das wirklich überzeugend ist, sei dahingestellt. 😉
Ich habe einen Akademiker gefragt: Fagst Du Deine Frau: Begegnen Nudeln? Er: Natürtlich nicht, mit einer Frau rede ich verständlich.
Das bringt das Problem wunderbar auf den Punkt! In der Alltagskommunikation würde niemand so künstlich reden. Es scheint, als ob akademische Ausdrucksweisen sich von der eigentlichen Funktion – der klaren Vermittlung von Ideen – entfernt haben: Jargon zur Demonstration von Distinktion.
Warum keine verständliche Texte, sondern Nebelkerzen. Vielleicht liegt das Problem darin, dass Fachsprache oft eine Gemeinschaft bildet, in der bestimmte Begriffe oder Stilmittel zur Norm werden, ohne dass sie wirklich nötig wären. Dabei sollte Wissenschaft doch vor allem Erkenntnis fördern, nicht exklusive Sprachcodes pflegen.
Die Frage ist dann: Sollte sich akademische Sprache bewusster an klarer und natürlicher Kommunikation orientieren? Vielleicht wäre es eine gute wissenschaftliche Übung, solche Texte einmal in normale Sprache „rückzuübersetzen“! 😊

muṣḥaf Rušdī-Wāʿiẓ

In einem früheren Post habe ich dar­gelegt, dass es von dem in Baġdād aufbe­wahrten muṣḥaf Muhammad ʾAmīn ar-Rušdīs im ʿIraq, in Saʿudia, in Jordanien und in Qaṭar zwischen 1370/1951 und 1401/1981 Nachdrucke gab.
Bis auf die Nach­worte/Kolo­phone und die ḥizb-Einteilung sind sie alle gleich. Sie geben die Bearbei­tung nach Šaiḫ Naǧm ad-Dīn al-Wāʿiẓ wieder.
Erst jetzt habe ich erfahren, dass es 1415/1994 einen weiteren Nach­druck gab: Er beruht leider nicht auf dem Original, sondern auf dem ʿirāqi­schen Druck:
— alle Zusatz­bemer­kungen wurden getilgt — die ihmal-Zeichen wurden schon 1370/1951 getilgt,
— die hohen yāʾ barī bei jedem zehnten Vers wurden getilgt,
— ALLE Alifs-Waṣl haben jetzt ein Waṣl-Zeichen — nicht nur die vor ḥarf sākin
— Pausenzeichen und Vokalzeichen wurden genauer/richtiger platziert,
— manchmal wurde der Wortabstand vergrößert, langgezogenes-nūn gekürzt
ḍamma-Zeichen wurden durch gedrehtes ḍamma ersetzt, wo die Prosodie ū verlangt,
— Mūsā bekam ein Lang-fatḥa,



Wer hat Bilder vom Original?

Mittwoch, 11. September 2019

Ambig Bauer

Thomas Ambig Bauer ist derzeit der beim Feuilleton beliebteste Arabist.
Weil er schreibt, was gängig ist. Weil er aus­reichend ver­einfacht.

Ich finde, er schreibt Unsinn.
Der Begriff »Ambiguität« ist im Deutschen weniger gebräuch­lich als sein englisches oder französi­sches Äquivalent, denn ambiguity und ambiguité sind Wörter der Alltags­sprache. Das Wort ist aber auch im Deutschen unver­zicht­bar
Im Deutchen kann man auf das Wort bestens verzichten, ja man sollte es so gut wie nie gebrauchen, und schon gar nicht so wie Bauer, nämlich falsch.
Es kommt von ambo (zwei) und iggere (treiben)
Ambig Bauer benutzt es aber meist im Sinne von vieldeutig
wo es doch zwei-triebig heißt.
Man braucht es im Deutschen überhaupt nicht,
wir können schließ­lich genauer sagen, was mir meinen:
zwei-deutig, un-eindeutig
zwei-gestaltig,
Zwei-Naturen, Zwi-licht, Nach-Sicht
doppel-bödig,
Zwi-tracht, zwiträchtig
mehr-deutig, viel-deutig,
Einspruch, Wider­spruch, widersprüchlich,
unabgeschlossen, unentschieden, unent­scheidbar, unüber­sicht­lich
zwei-schneidig, zwie-gesichtig, zwie-lichtig (von neutral bis negativ)
Mit Widersprüchen leben, sie aushalten,
nicht leugnen von Widersprüchen, sie nicht zukleistern.
Vielfalt, Pluralismus, Dia­lektik, dialek­tisch,
Gegen-satz, gegen­sätzlich, plural,
Heterogenität,
janusköpfig,
Offenheit, offen lassen,
Grauzone, Vielfalt, gemischt,
unscharf, ungenau, vage, unklar, "irgend", "so in der Art", "oder so",
mit Toleranz, mit Spiel, mit Band­breite, ungefähr, dehn­bar, flexi­bel
Manchmal trifft es auch "5 gerade sein lassen",
es nicht zu genau wissen wollen, es im Dunkeln belas­sen,
"sowohl als auch", "jein" oder gleich­zeitig.
Mal hilft es, Differenzen auszu­klammern, eine Sache auf sich beruhen zu lassen,
Ungehöriges nicht zu "sehen", d.h. sie nichts aufs Tapet zu bringen.
Ambig Bauer will all dies mit éinem Wort verkleistern,
ich ziehe die Treff-Genauig­keit verschie­dener Worte vor.
Ich verstehe schlicht nicht, wie ein des Deutschen Mäch­tiger
sagen, kann "ambig" (gesprochen ammbick) sei unver­zicht­bar.
Wenn ich nicht spinne, spinnt Ambig Bauer.
Wenn man den Begriff Ambiguität ... erwei­tert,
muß man auch den Begriff der Bedeu­tung weiter fassen
„Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert, muß man auch den Begriff der Bedeutung weiter fassen“ (26). Muss man? Ambiguitas bedeutet: von‐zwei‐Seiten‐Treiben, Vag­heit, Zögern, Zweifeln. Aber all das meint Bauer gar nicht; er meint Viel­deutig­keit und nur wenn „Ambiguität“ gar nicht seine lateini­sche Bedeutung hat, sondern nur ein hoch­trabende Ver­kleidung von „Vieldeutigkeit“ ist, muss man Bedeu­tung weiter fassen. Muss man denn Latein schreiben, wenn man Deutsch denkt?
Unnötig auch einen „coitus pro natura“ zu erfinden, die Scholasti­ker meiner rö­misch‐katho­lischen Kirche kennen nur einen „coitus natu­ra­liter“, aber Bauer ent­stammt bestimmt einer alter­na­tiven römi­schen Kirche.
Ich verstehe auch seine Schwierig­keiten nicht, den grünen Stecker in das grüne Loch und den roten in das rote zu stecken – seine Aus­füh­rungen über drei Gebrauchs­anwe­isun­gen, zwei Löcher und einem Stecker (S. 54‐56) sind kon­struiert.
In der Welt, in der ich lebe, gibt es für Geräte mit zwei Löchern   zwei Stecker, die durch lind­grün-rosa und kleine Sym­bole (Mikro-Kopf­hörer) klar zuge­ordnet sind. Wer liest dazu ein Hand­buch?
Ginge es ihm nicht um Hoch­gelehrsam­keit sondern um Ein­sichten, dann kämen wir mit Offenheit, Vielfalt, Sowohl‐Als‐Auch, Plura­lismus, Hetero­genität, mit‐Wider­sprüchen‐Leben, Unabge­schlossen­heit, Mehr­deutig­keit, „kommt drauf an“, „5 gerade sein Lassen“, Streit‐Aushalten weiter als mit „Ambiguität“. Aber dann gelänge es ihm weniger gut, dem Leser bis kurz vor Schluss weis­zu­machen, dass Islam gut und Westen schlecht sei. Als Skeptiker habe ich mich gleich gefragt, ob das denn wirklich so sei, dass der moderne Westen „klar und ein­deutig“ sei und deshalb Bonaparte die Mamelucken besiegt habe. Ich denke die vielen, relativ preis­werten, schnell nachzu­ladenen Schuss­waffen spielten dabei eine gewisse Rolle und dass Stan­dar­di­sie­rung Massen­fer­tigung erleich­tert. Bauers Behauptung, der Westen sei eindeutig, ignoriert, dass Standardisierung auch im Islam üblich war. Die Standardisierung von Dinar und Dir­ham erleichterte den Fern-Han­del. Aber schon der tech­nische Fort­schritt des Westens war weniger Folge von „klar und eindeutig“ wie Bauer meint, als von „trial and error“, Vor­läufig­keit, Nicht­abge­schlossen­heit; Besser‐Machen (ohne auf das einzige wahre Op­timum zu warten) brachte den Westen nach vorn, nicht „Orna­ment ist Ver­bre­chen“, wie Bauer Adolf Loos falsch zitiert <dessen Mani­fest heißt Orna­ment UND Ver­brechen> sonst hätte es unter Wilhelm II keinen Fort­schritt bei der Stahl­pro­duk­tion gegeben, sondern erst in den 1920er Jahren.
Was Bauer hier schreibt entspringt nicht eigenem Studium oder eigenem Denken, sondern stammt von Herren, die vor allem Frank­reich studiert haben. Hass auf Anders­denkende (Bartholomäus­nacht und Henri IVs Er­mordung) sind aber nicht Bedingung für Meter, Gramm, Liter und Null­meridian. Nicht Louis' Ver­trei­bung der Hugenotten (Edikt von Nantes) sondern Colberts Schiffs­kanäle und die Ab­schaffung der Binnen­zölle steigerten Frank­reichs Brutto­sozial­pro­dukt. In Deutsch­land brachten Zollunion, Mittel­landkanal, Reichs­mark, und MEZ Produktions­zuwachs auch ohne kon­fessio­nelle Homo­geni­sierung und Zentra­li­sation. Nicht die „Preu­ßi­sche Union“ von Luthe­ranern und Cal­vinisten machte Preußen reich und „modern“ sondern die katho­li­schen Kohle an Ruhr, Saar und in Schlesien. Bauer muss ja nicht histo­rischer Materia­list werden, aber sein Über­bau­gedusel ist schon sehr idea­listisch.
Wenn er schreibt, dass die „Ökonomie besonders ambi­guitäts­in­tolerant“ (58) sei, dann hat er sich nichts dabei gedacht. Nach meinem Ver­ständnis ist es genau umge­kehrt: der Markt lebt davon, dass Samsung und Apple, Win­dows und MacOS, BMW und Daimler neben­einander existie­ren und nicht einer einzig recht hat. Nimmt man den Wett­bewerb von FAZ und Süd­deutscher, von Grünen und Piraten dazu, sieht man, dass „der Westen“ doch nicht so rigide und un­flexibel ist, wie Bauer ihn dar­stellt. Erst kurz vor Schluss räumt er ein, dass „poly­phone Musik, ... Opern ... und Demo­kratie“ Leistungen des Westens seien, die nicht „klar und ein­deutig“ seien; doch seien Erstere marginal und die Demo­kratie „von Heka­tomben von Opfern gesäumt“ (403). Ich vermute, dass sich auf diesen Seiten Dis­kussionen mit Menschen nieder­geschlagen haben, die mehr vom Westen ver­stehen als Bauer, dass er mit diesem Einge­ständnis aber schon die Grenze seiner Ein­sicht in Positives am Westen erreicht hat. Meiner Ansicht nach wäre das Buch viel besser, wenn es mehr hätte von Dingen, die Bauer gut kennt, und weniger über den Westen.
Außerdem meint er mit Demo­kratie wohl nicht "Herrschaft des Volkes/ Herrschaft der Mehr­heit/ volonté genérale", sondern "Pluralität, Wettkampf der Meinungen, Schutz von Minder­heiten" – sonst macht es keinen Sinn.
Und wieso spricht er von Polyphonie statt von Bi-Phonie? Er sagt ja auch Bi-Guität, obwohl er Viel-Deutigkeit meint? mmh.
Bauer schreibt immer wieder von den vier Rechts­schulen, obwohl er andere als die vier erwähnt, u.a die von Abu Thaur (171); dabei passiert ihm ein Fehler: er spricht von „dem Ẓāhiriten Abu Dāwūd“ (170). Erstens heißt der Mann D., nicht Abū D., zweitens ist das der Grün­der der Schule, die deshalb auch Dāwūdīya heißt. Bei zehn neben­ein­ander existieren­den Schulen von Zwei­deu­tig­keit zu sprechen, scheint mir so schief wie bei 28 Koran­les­arten. Bauer meint mit „ambi“ gar nicht „ambi“ sondern „pluri“ oder „poly“; warum sagt er nicht, was er meint?

Qirāʾāt
Gleichzeitig spricht man auch bei einer einzelnen Text­stelle, die in verschie­denen Versionen unter­schiedlich lautet, von einer qirāʾa.
Bauer: Kultur der Abiguität. S. 62
Das stimmt nicht: nicht die Text‐stelle nennt man qirāʾa, sondern ihre Varian­ten nennt man qirāʾāt. Für einen Deutschen ist die Sache eigent­lich ganz einfach: sowohl eine fest­gelegte Lesung des ganzen Koran nennt man „Lesart“, wie die einer Stelle. Nur weil im Engli­schen bei der Stelle von „variant“ und beim ganzen Koran von „reading“ geredet wird, kommt Bauer durch­einander. Der Voll­ständigkeit halber: qirāʾa hat nóch eine Bedeutung: Lesung/ Re­zita­tion/ Ver­klang­lichung, also die Aktua­lisie­rung des Textes (per­formance).
das Bewusstsein von der Plurali­tät der qirā´āt hat durch die Ein­führung des Buch­drucks einen schweren Schlag erlitten. Im Jahre 1344/1925 wurde in Kairo der Koran in der Lesung »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim« gedruckt. Diese Ausgabe hat sich rasch in der gesamten isla­mischen Welt durch­gesetzt.“ (95)
„Der historische Zufall, daß sich die »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim«‐Lesung im Gefolge des Osma­ni­schen Reiches weit­hin aus­ge­brei­tet hat und schließ­lich dank des Buch­drucks in der Praxis eine Mono­pol­stellung er­langte, ... (108)
Nichts davon ist richtig:
Der Buchdruck hat das Bewußtsein der Lesungen gestärkt.
Die Ausgabe von 1342/1924 (!) hat sich nie und nimmer "in der ge­samten islami­schen Welt durch­gesetzt":
1.) Selbst in Ägypten, wo sich die neue Ortho­graphie dank staat­lichen Drucks durch­setzte, war die Aus­gabe der Amīriyya immer eine Seltenheit. Vor zehn Jahren lagen davon noch unver­käuf­liche Exemplare in den Buch­läden. Aus­gaben auf 522 Seiten ver­kauften sich besser: erst die von Muṣṭafā Naẓīf Qadir­ġalī, nach 1975 die von Muḥammd Saʿd Ibrāhīm al-Ḥaddād geschriebene, nach 1976 auch der ganz schlicht gesetzte Muṣḥaf al-Azhār aš-Šarīf, heute wieder al-Ḥad­dād/Šamar­lī sowie ʿUṭmān Ṭāhā auf 604 Seiten (UT).
Zweitens hat erst in den 1980ern die UT die Ortho­graphie der Aus­gabe von 1952 im Mašriq durch­gesezt ‒ spät und all­mählich,
Drittens nur in Ost­arabien, weder in Persien, noch in Marokko, weder in der Türkei (oder bei den Türken in Deutsch­land), noch bei der größten Gruppe der Muslime, den Indern, Pakis­tani, Ben­galen und Indo­nesiern.

Es ist auch kein historischer Zufall, dass das osma­nische Reich und das timuridische Moghul­reich die ḥana­fiti­sche/ku­fi­sche Rechts­schule annahmen, weil diese Reiche (für das osmanische zumindest über lange Zeit) nur eine Minder­heit von sunni­ti­schen Ein­wohnern hatten und des­halb die Rechts­schule wählen mussten, die die Anders­gläubi­gen am wenigsten dis­krimi­niert. Und so wie die Māli­ki­ten letzt­lich eine Lesung aus Medina bevor­zugen, so die Ḥana­fiten eine aus Kufa. Ob das ent­scheidend war oder die Tatsache, dass ʿĀṣims Lesung näher an der Stan­dard­aus­sprache des Arabi­schen ist als andere Le­sun­gen, dass man also auf weniger Wider­sprüche zwischen den Gramma­tik‐Büchern und den Koran‐Vor­trags­büchern stößt, und des­halb gerade Türken, Moghulen, Perser, Inder und Indone­sier sich für die leich­teste Lesung ent­schieden, kann offen bleiben.
Nebenbei: Bevor die „Marokkaner“ die Lesung nach Warsch von den „Tune­siern“ über­nahmen, hatten sie nach Hamzah aus Kufa gelesen. Auch diese inner‐maghre­bi­ni­sche Verein­heit­lichung hat nichts mit dem Buch­druck zu tun.
Es ist aber nicht bloßer Zufall und der Buch­druck tat wenig zum Zurück­drängen der anderen Les­arten. Bauer müsste nach­weisen, dass vor 1830 (dem Beginn des Drucks von Koranen in der islami­schen Welt) der ʿĀṣim‐Anteil geringer war als danach, und nach 1925 nochmal größer als davor.
Was man leicht zeigen kann, ist, dass CD, DVD, Internet, Apps und Buch­druck in den letzten 50 Jahren mehr zur Ver­brei­tung von anderen Les­arten als Ḥafṣ nach ʿĀṣim getan haben als alle Reli­gions­schulen in den 1000 Jahren davor.

Die Kultur der Ambiguität, das Buch ...

... ist ein Märchenbuch, voller Lügen, schwarz-weiß statt "ja-aber"-grau.
Obwohl es laut Unter­titel "Eine andere Geschichte des Islams" ist, geht es in ihm gar nicht um den Islam, sondern nur um zwei Varianten, zwei von hundert:
— um den städtischen, sunni­tischen Gelehrten­islam Ost­arabiens (Ägyptens, Syriens, des Irāqs), nicht des frühen, sich erst bilden­den Islam, sondern um den "postformativen", "vor­kolonialen",
— den "post­kolonialen", die Antwort auf das Vordringen Europas, also ins­besondere den Wahha­bis­mus.
Doch die meisten Deutschen wissen so wenig über Islam, dass sie daraus viel lernen können:
1) Der Nahe Osten war weder rein islamisch, noch durch und durch religiös. Die Herrscher waren nicht Befehls­empfänger reli­giöser Würden­träger; Kunst und Wissen­schaft waren keine Anhäng­sel der Religion.
2) Der mittelalterliche Islam war nicht dogmatisch, unduld­sam und prüde.
Er hat weder ethnische Säube­rungen orga­ni­siert noch religiöse Minder­heiten ver­nichtet.
— Islamismus ist keine Rück­kehr zum tra­ditio­nellen Islam, son­dern ein Ver­such, den Westen mit des­sen Methoden zu schlagen.

In Kapiteln über Koran, Hadith und Recht zeigt Bauer, dass Gottes Buch, das Bei­spiel des Ge­sandten und Gottes Regeln zwar ab­solute Geltung bean­spru­chen, aber nie­mand wis­sen kann, was Gott gemeint hat und welche "Ge­sandten­sprü­che" wirk­lich von ihm stammen, deshalb die Schariʿa gar nicht ange­wendet werden kann.

Kernthese über den westlichen Menschen
Ambig Bauers Kernthese: «Eine beträcht­liche Angst vor ihrem eigenen Körper begleitet die Menschen des Westens seit Jahr­hun­derten. ... [Die daraus resul­tieren­den] am­bi­valenten Gefühle [können] zu starker Ambiguitäts­intoleranz führen.» Durch Imita­tion des Westens sinke seit 200 Jah­ren im Nahen Osten die Toleranz gegen­über Mehr­deutigkeit. ‒ Während also im Westen der Leib den Unter­bau für Kultur und Menta­li­tät bilde, gestalte im Nahen Osten west­liche Dis­kurs­hege­monie diese um.
Thomas Ambig Bauer ist Philologe; wenn er ara­bische Texte referiert, ist er gut, wenn es um Gesell­schaft und Wirt­schaft geht, ist er schlecht. Er schreibt: Juden und Christen fand man in allen Dörfern, ihnen standen außer dem Militär alle Berufe offen. Erste­res stimmt nicht und Letzte­res ist nicht nur Berufs­verbot, sondern elemen­tare Ent­rechtung: Juden und Christen durften keine Waffen tragen, waren wie Frauen und Kinder schutz­bedürftig. Ich glaube auch nicht, dass sie Qadi oder Muezzin werden konnten. De facto waren sie auf wenige Berufe beschränkt, etwa Seifen­sie­der, Silber­schmiede, Musiker, Hau­sierer, Photo­graphen, Steuer­eintreiber. Von eth­ni­scher Arbeits­teilung hat Bauer nie ge­hört. Immerhin kommt «Arbeits­teilung» vor, doch damit meint er nicht Spezia­lisie­rung in Hand­werk, Handel, Landwirt­schaft, sondern «Arbeits­teilung» zwi­schen Juristen, Sufis, Theo­logen, Hadith­experten.
Er schaut durch die rosa­rote Brille wenn er von Ent­deckungs­reisen in Afrika schwärmt, aber die Sklaven­jagden nicht erwähnt. Statt dessen: «Die soziale Mobi­lität war geradezu schranken­los ... Im Na­hen Osten konnte man tatsäch­lich vom Sklaven zum Fürsten werden.»
Es war aber nicht so, dass erst ein Bäcker Herrscher war, sein Nach­folger ein Dichter, darauf ein Sklave folgte, der von einem Stammes­krieger abgelöst wurde. Meist herrsch­ten Geschlechter. Auch die 500-jährige Militär­diktatur, die Ägypten regierte, heißt in den arabischen Quellen «Dynastie/daula»; in der Zeit waren alle Herrscher Ex-Sklaven, aber niemals Kü­chen-, Harems- oder Plan­ta­gen­sklave, sondern aus­schließ­lich Generäle. Nur Sklaven des Sultans oder eines hohen Beys konnten Sultan werden. Das Verhältnis der Sklaven zu ihren Händ­lern war weit besser als das der heu­tigen Wirt­schafts­flücht­lingen zu ihren Schleppern. Eltern ver­kauften Kinder, damit diese es bes­ser hätten; sogar freie Jungs ver­suchten, als Sklaven in die Rekru­ten­anstal­ten zu gelangen.

Was die Sexualität betrifft zeichnet Bauer folgendes Bild: Mit Sex ging man «locker und unge­zwungen» um, Verbote waren rein theore­tisch. In tausend Jahren wurde nie­mand wegen ein­ver­nehm­lichem Sex zwischen Männern ver­urteilt. «In der isla­mi­schen Sexual­ethik wird Sex als etwas unein­geschränkt Positi­ves gesehen. Der Geschlechts­verkehr diene, so al-Ghazäli, erstens dazu dem Menschen einen posi­tiven Vor­geschmack auf das Paradies zu geben, und zweitens, für den Fort­bestand des Men­schen­geschlechts zu sorgen — man beachte die Reihen­folge!»

Nun, leider ist das falsch, sogar die Reihen­folge;
in der Iḥyāʾ ʿUlum ad-Dīn (al-Ghazālīs Haupt­werk) kommen we­der «Geschlechts­verkehr» noch «Men­schen» vor; es geht um «Männer» und «das Bestel­len/al-ḥirāṯa» (d.h. Pflügen und Besamen) der Ehe­frauen. Statt «Fort­be­stand des Menschen­geschlechts» steht im Original «Söhne» und dort geht es auch darum, durch Koitus die mus­limi­sche Ge­meinde zu vergrößern. Die Lust stellt al-Ghazāli als ein Werk­zeug des Satans vor und als Trick Gottes:
Der Mann bekommt einen Vor­ge­schmack auf Paradies­freuden, unter­wirft sich des­halb völlig, um in den Himmel zu kom­men. Al-Ghazāli gelingt es sogar trotz des Vor­bilds des Gesandten, der bekannt­lich kleine Mädchen, Frauen und Wit­wen hei­ra­tete, alles andere als ein «unein­ge­schränkt posi­tives» Urteil abzu­geben: Nur in den ersten 200 Jahren des Islam seien die Frauen züchtig und tüch­tig gewesen, heute sei das anders. Ganz wie Paulus stellt al-Ghazāli die Ehe­losigkeit über die Ehe.
Ambig Bauers Behaup­tung, dass das Verbot gegen Sex außer­halb von Ehe und Kon­kubinat «gültig und nicht gültig» sei, dass diese «Gesetze undurch­führbar» seien und dass man mit ihnen «lax umge­gangen» sei, ist Unsinn. Er selbst gibt an, dass im Gesetz selbst hohe Beweis­hürden errichtet wur­den. Das Verbot war absolut gültig, doch der Voll­zug der Strafe war fast nur bei einem Geständnis möglich. Wenn er aber meint, dann sei das Gesetz «ir­relevant», zeigt er, dass er nichts kapiert hat.
Es ist ja nicht nur so, dass wir wenig über Ver­urteilungen wegen «ein­vernehm­lichen Sex zwischen Männern» wissen, — wir wissen überhaupt nichts darüber — im Ge­gen­satz zu Ver­gewaltigungen. Es gab ent­weder keinen einver­nehm­lichen Sex zwi­schen Männern oder man hielt es geheim, weil man sich schämte und Angst hatte.
«Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt durch sein Leugnen die Gültig­keit des Verbots; solch deviantes Ver­halten wird to­le­riert. Wer sich non-konformi­stisch verhält, sich also um ein Verbot einfach nicht kümmert, es für sich außer Kraft setzt, ohne seine all­gemeine Gül­tig­keit anzugrei­fen, wird in Frie­den gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine Gültig­keit bestreitet, muss zur Raison ge­bracht werden. Denn der ist ein Ungläu­biger, der etwas erlaubt, was in der Religi­on des Propheten verboten ist» (A. Schmitt: Liwat)
«Im vor­kolonialen Nahen Osten war es selbst­ver­ständlich, dass schöne junge Män­ner begehrens­wert sind». Belege dafür gibt es nicht. In den Tausenden von Liebes­ge­dichten in denen es nicht ausdrücklich um Frauen geht, wird nie männ­liche Schön­heit besungen, nie Waschbrettbauch, kan­tiges Kinn, ... statt dessen weite Hüfte, Wackelarsch, trippelnder Gang, Baby­speck ... Auch, wo mit dem Maskulin keine Frau gemeint ist, was die arabische Gram­matik erlaubt, geht es nie um Virilität; die Dichter wollten den Knaben kokett und unter­würfig, zart und gefügig. Mit Homo-Erotik, also mit Begehren eines Gleichen, hat das nichts zu tun.
Thomas Bauer behauptet, in den «Bart­wuchs­epi­grammen» ginge es um kräftige Bärte; es ist aber immer von zartem Flaum die Rede. Das Wort, dass die Dichter benutzen /ʿiḏār/ bedeutet Pfirsisch-Flaum, Zurück­haltung, Sitt­samkeit, Keusch­heit, Jung­männ­lich­keit, Kokette­rie, Unschuld, Ver­schämt­heit, Scheue, Zurück­haltung, Wangen­bart, Ent­schul­digung – in besagten Gedichten das Gegen­teil von einem männlichen Bart. Th. Bauer behauptet, der Bart werde in Kauf genommen, weil der «Jüngling ... noch immer süß» sei.
Da steht aber, dass er noch immer Schönes gewähre, nämlich dass er sich pene­trieren lässt.
Im nächste Gedicht werde «der Bart­wuchs als etwas rundum Positives dar­gestellt»:
"Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, der zieht nicht fort, wenn Früh­lings­blumen sprießen."
Es geht aber nicht darum, dass die Gegend jetzt rund­um schön und damit auch der Bart schön sei.
Vielmehr sagt der Dichter: Wer in einen unbehaar­ten Anus rein­gelas­sen wurde, verzichtet auf derlei Freuden nicht wegen zarter Frühlings­härchen, die jetzt rund um den Anus sprießen.
Merkwürdig auch Bauers «Fort­leben»-Be­hauptung. Gewöhn­lich nimmt man an, dass die Muslime nur die nütz­liche Litera­tur der Griechen rezipier­ten: Medizin, Phi­losophie, Mathematik und Astro­logie, dass sie aber von Homer, Sophokles und Sappho gar keine Kunde hatten. Bauer schreibt, mit den letzten Flaum­gedichten ende eine «zwei­tausend­jährige Tra­dition, denn es ist schwer vorzu­stellen, dass das ara­bische apolo­getische Bartwuchs­epigramm nicht die Tra­dition seiner antiken Vor­läufer fort­setzt.» Im Gegen­teil: Ohne Informa­tionen über Grie­chisch-Kennt­nisse bei ara­bi­schen Dichter und Manu­skripten mit griechi­scher Lyrik im Besitz islami­scher Gelehr­ter kann ich mir Bauers «Fort­set­zung» nicht vor­stellen.
Insgesamt malt er ein rosiges Bild vom vor­kolonia­len Nahen Osten, in dem Skla­ven zu Prinzen wurden, und Päd­erasten ihrer Lust frönen konnten ‒ Frauen und Pene­trierte kom­men aber nicht zu Wort. Gewiss, «bei uns» kann man nicht nur durch Tat und Wort sün­digen, sondern schon in Gedanken, aber dass «der Islam» einfach nur sinnen­froh gewesen sei bis die Kolo­nial­herren ihn ver­darben, stimmt nicht. Auch Muslime sprachen von dunklen Trieben, und wenn «im Islam» das Begehren des Mannes we­niger ver­teufelt wurde als «bei uns», so ver­teufel­ten Muslime die Frau umso mehr. Und bei der Ver­teufelung der Frauen zieht sogar manch lockerer Sufi mit strengen Hamba­liten an einem Strick.
Die Idee, dass die Verachtung der Pene­trierten, mit der Stel­lung der Frau in der Gesell­schaft zu tun hat, kommt Bauer nicht.

Bei Ambig Bauer kriegen alle Reaktio­nen auf die Moderne ihr Fett ab; bei ihren je­weiligen Ahnen ist er jedoch partei­isch: Während die «Helden» der Reformer, die «rationa­li­stischen» Mu'tazi­liten als dogmatisch und rigoros getadelt werden, schimpft er mit ihren ‒ genauso dogmatischen und ri­gorosen ‒ Gegnern, den Hamba­liten, nicht. (Übrigens besteht die «Rigoro­si­tät» der Mu'tazi­liten darin, dass bei ihnen auch Muslime, wenn sie schwer sündi­gen und nicht bereuen, in die Hölle kommen und nicht nur Juden, Christen und Heiden.) Das gehört zu Bauers Strate­gie, den frühen Is­lam ‒ in dem Theo­logie noch dis­kutiert wurde ‒ und den späten ‒ die Ant­worten auf die Koloni­satoren ‒ gegen­über dem da­zwischen ‒ in dem das Dogma un­hinter­fragt war ‒ runter­zumachen.
Eigenartig, dass Bauer zu dem Thema die Arbeiten von Fach­leuten völlig un­erwähnt lässt, (Khaled el-Rouay­heb, Before Homo­sexua­lity in the Arab-Islamic World 1500- 1800 und Dror Ze'ev, Producing Desire. Changing Sexual Dis­course in the Otto­man Middle East), die das Gebiet genauer erforscht haben als Bauer; auch die Arbei­ten von Everett K. Rowson und Frederic Lagrange bleiben unerwähnt.


eine Mentalitätsgeschichte?
Ob er wirklich eine Mentalitätsgeschichte des Nahen Osten vom 10. bis zum 19. Jahrhundert geschrieben hat, wie er glaubt, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob man von den Abhand­lungen der städtischen Gelehrten auf die Menta­lität der Bauern schließen kann – so wenig wie man von William von Ockhams Schriften auf die seeli­sche Verfassung bayrischer Bauern, und von denen eines Erasmus auf die von Rhein­schiffern schließen kann.

schlicht falsch
Wenn ich kritisiere, dass Bauer sich seinen Islam zurecht­legt, indem er fast alle Islame ignoriert – sowohl im Sinne von „nicht kennt“ wie im Sinne von „über­geht = dem Leser vor­ent­hält“, dann geht es nicht nur um Faul­heit. Bauer tut so, als sei der Muslim vor der An­steckung durch das moderne Europa gar nicht in der Lage gewesen, Ein­deutig­keit zu ver­langen. Zu solchen Aus­führungen über den Koran, wie sie saʿudi­sche Ge­lehrte heute pro­duzieren, sei der von Europa noch nicht ver­dorbene Muslim nicht in der Lage gewesen, für diesen sei Viel­deu­tig­keit gerade­zu eine Notwen­dig­keit ge­wesen. Nun schreibt Aḥmad b. Mu­ḥam­mad as‐Saiyā­rī im Kitāb al‐qirāʾāt über den Koran: bal huwa ḥarf wāḥid min ʿindi wāḥid nazala bihi malak wāḥid ʿalā nabī  wāḥid (er hat éine Lesart, kommt von Einem, ist éinem Propheten durch éinen Engel geoffen­bart); Saiyārī lebte aber tausend Jahre vor der Bauer­schen Ver­schwö­rung des Westens, den Islam auf Linie zu bringen.
Die Belege, die Bauer von seinen Gelehrten bringt, sind höchst auf­schluss­reich; mit dem (vormodernen) Islam darf man sie aber nicht ver­wechseln.

Islamisierung des Islam
Seitenlang wütet Bauer – zu Recht – gegen die „Islami­sierung des Islam“, was zweierlei meint: einmal, dass man die islamische Religion theolo­gisiert, sie paral­leler zum Christentum macht als sie ist, spielt doch in ihr das Dogma eine weniger wichtige Rolle, zum andern, dass man die Gesell­schaft religiö­ser macht als sie ist. Und in diesem Zusammen­hang schimpft er gegen die Dummheit, „Islam“ und „islamistisch“ zu benutzen, wo die Religion gar nicht gemeint ist. Er selbst macht dies leider auch immer wieder – nicht nur im Titel des Buches. Ich selbst behelfe mich damit, dass ich „muslimisch“ eher für religiöse Aspekte nehme und „islamisch“ für die Zivi­lisation benutze. Er zetert über Islam­ex­per­ten, die gar nicht über die Religion reden sondern über alles Mögliche im nahen Osten, ohne zu erwäh­nen, dass das einer Binnen­sicht ent­spricht: Die Muslime nennen die gesamte von Muslimen beherr­schte Welt das „Haus des Islam“; wenn etwas davon an die Fehl­gläubigen verloren geht, sind sie gekränkt und in ihrem Haus ist ein christ­licher Präsident unvorstell­bar. Bauer über­sieht auch, dass Reli­gion nicht nur Dogma, persönlicher Glaube, offi­ziel­ler Ritus, Zaube­rei/Hexe­rei, Versenkung und Ver­zückung ist, sondern auch ein gesell­schaft­liches Phäno­men. Egal wie unfromm einer ist, wenn er Alawit, Jude, Druse, Christ ist, wird er im Dār al‐Islām anders behandelt als ein Recht­gläubiger – und (des­halb?) handelt er auch anders.
Bauer kämpft gern gegen Papp­kamera­den: Er tut so, als hielten die Orienta­listen die Medizin des Nahen Ostens für religiöse Medizin, obwohl sie doch völlig unreligiös sei, nämlich die alte hippo­kra­tisch‐gale­nische. Acht Seiten später – wenn von Medizin nicht mehr die Rede ist – schreibt er, dass im vor­kolonia­len Nahen Osten „auf allem ein religiöser Fein­staub“ (201) liege. Es gebe Religion gar nicht als eine eigene Sphäre, alles sei irgend­wie religiös. Hätte er das ein­gangs eingeräumt, hätte er sich viel Schaum vorm Mund sparen können. So gibt es auch gar nicht die von ihm be­haup­tete harte Trennung (195: wenig Ambi­gui­täts­tole­ranz) zwischen „grie­chi­scher“ und „prophe­tischer“ Medizin. Auch die musli­mischen Praktiker der grie­chi­schen Medizin haben keinen Ader­lass ge­macht, ohne die Basmala zu mur­meln; auch sie haben ihr Behand­lungs­zimmer mit Kalli­graphien der āyāt aš‐šifāʾ geschmückt. Und wenn man sich die Bücher der pro­phe­ti­schen Medi­zin anschaut, so gibt es – beson­ders bei Ḥamba­liten – welche mit viel Hilde­gard­medizin (Bauers Analogie) aber auch solche, die außer ein paar from­men Sprüchen die übliche Lehre und Heil­methoden bringen. Die Trennung von welt­licher und religiöser Medizin war so streng nicht.

Kapitelendnoten
Für den Leser, der Bauers Gedankengänge nachvollziehen will, ist das Buch eine Unverschämt­heit. Der Autor schreibt: „Der Leser sei versichert, daß Anmerkungen auf nichts verweisen als auf Quellen‐ und Literatur­angaben ... Ihm entgeht also nichts inhaltlich Wichtiges, wenn er eine entspannte Lektüre per­manen­tem Nach­schlagen vorzieht.“ (25)
Oft bieten die Kapitel­endnote keine Primärquelle für die Behaup­tung, sondern irgend­einen Feuilletonisten, der Bauers Meinung schon früher vertreten hat. Ob man dort Quellen findet, weiß man nicht. Bei arabischen Texten gibt Bauer die Seite nach einer beliebigen Aus­gabe an. Würde er zusätzlich kitāb, bāb, faṣl angeben, könnte man die Stelle in jeder Ausgabe finden. Noch praktischer wäre ein Originalzitat. Aber weil fürs große Publikum geschrieben, verzichtet Bauer auf die Nachvoll­zieh­barkeit. Ich kann nicht glauben, dass Fußnoten einen so großen Abschreckungs­effekt haben. Dann könnte man ja auch gleich auf diakritische Punkte in der Umschrift verzichten.
Und Bauer hält sich nicht mal an seine Ver­sicherung. Der folgende Satz ist doch wohl weder eine Quellen‐ noch eine Lite­ratur­angabe:
„Die Begriffe »Homo­sexua­lität« (Erstbeleg 1869) und »Hetero­sexualität« (Erstbeleg 1880) gehen auf Karl Maria Kert­beny (1834‐1882) zurück“ (421)
Das ist (selbst­verständ­lich) falsch und zeigt, dass Bauer jeden Unsinn glaubt. In der deutschen Wikipedia ist sowohl unter „homo­sexuell“ wie unter „Karl Maria Kert­beny“ der Erstbeleg für beide Begriffe abge­bildet. „Natürlich“ hat Kertbeny sich die Begriffe gleichzeitig ausgedacht.
A propos „gleich­zeitig“: Im Theorie­kapitel schreibt Bauer, dass wenn „in einer Stadt“ zur gleichen Zeit eine „Bevölkerungs­gruppe“ eher zum Heiler geht und eine andere zum Mediziner, dann sei das nicht „gleich­zeitig“ – „gleich­zeitig“ sei nur, wenn die gleichen Menschen beide Heil­methoden akzeptieren. Abgesehen davon, dass dann viele seiner Beispiele aus dem nahöst­lichen Bürgertum seine Grund­these gar nicht stützen, denn sehr viele Ḥam­ba­liten akzep­tier­ten weder Schi­iten noch Sufis, finde ich Defini­tionen, die dem Grund­sinn des Wortes wider­sprechen, nicht Erkenntnis fördernd.

Lust
Weil das Buch sich an das große Publikum wendet, greift Bauer oft Kolle­gen an, ohne deren Namen zu nennen, oder er schreibt von anderen ab, ohne irgend­wie anzudeuten, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist.
Zum Komplex mann‐männ­liche Sexualität und Erotik erwähnt er nur Massad und Klauda, von denen einer gar keine Quellen studiert haben kann, weil er kein Arabisch kann. Dass Everett K. Rowson und Arno Schmitt seit über zwanzig Jahren Grund­lege­des dazu ge­schrie­ben haben, bleibt genauso unerwähnt wie die Arbeiten von Fré­déric Lagrange, Dror Ze’evi und Khaled el‐Rouayheb; letzt­genannter hat viel genauer erklärt, wieso ver­schieden­artige Dis­kurse zu dem, was wir als éine Sphäre ansehen auf arabisch neben­einander existieren.
Bemerkenswert auch, dass Bauer, den Haupt­gedanken der von ihm erwähn­ten Bücher nicht versteht: Dass es nämlich im „vor­kolonialen“ Denken und Schreiben der Araber weder den Begriff noch das Wort „Homo­sexualität“ gibt, dass also bei ihnen der Bereich des Lebens, den wir heute als „Sexua­lität“ bezeichnen, anders struk­turiert war.
Massad Public Culture 14(2): 383f.:
Durch ihr Gerede über Homo­sexuelle, wo es bis dahin keine Homo­sexuellen gegeben hat, hetero­sexualisiert die Schwule Internationale (Amnesty Inter­national und schwule Menschen­rechts­organisa­tionen) eine Welt, die bis dahin von Homo­sexuellen und Hetero­sexuellen nichts wusste. Die Wir­kung ist in der musli­misch‐arabischen Kultur alles andere als befreiend: Männer, die bei mann‐männ­lichem Sex als passiv oder auf­nehmend gelten, werden gezwungen, ... sich als homo­sexuell oder schwul zu identifizieren, und die eindringenden Männer müssen sich auf éine Art von Objekten, Männer oder Frauen be­schränken. So werden aus ihnen Hetero­sexuelle, weil sie sonst in den Begriffen, die ihnen die Schwule Inter­natio­nale einzig lassen, zu Anormalen werden, mit allen Nachteilen, die das bedeutet..
– Während im modernen westlichen Denken ein Mann einen Mann lieben kann, die mit­einander Sex machen, kann im tradi­tionellen, mediter­ranen, patri­archa­li­schen Denken ein Mann nur mit einem Nicht‐Mann (Tunte, Trans­vestit, Knabe, Mädchen, Frau) Sex machen (die Unzahl von Verben sind alle transitiv: schlagen, be­steigen, reiten, ficken…).
Für zāniya benutzt Bauer das deutsche „Ehe­brecherin“ (282), obwohl weder die zāniya noch ihr Partner ver­heiratet sein müssen, dem­zu­folge keine Ehe brechen – und aus dem Text, wie Bauer ihn uns vorstellt – geht auch nicht hervor, dass die zāniya eine Ehebrecherin gewesen sei. Zu­gegeben: „Ge­schlechts­verkehr mit einer Person, mit der man dazu nicht das Recht hat“ ist deutlich länger und holpriger als „Ehebruch“ aber wenn man genau sein will, darf man nicht schlampen.
Bauer bringt das Kunst­stück fertig, Sexualität als kulturelles Kon­strukt auf­zufassen („es ist keines­wegs selbst­ver­ständlich, alle Handlungen und Emo­tionen, die direkt oder indirekt mit den Geschlechts­organen verbunden sind, auch unter­ein­ader ver­bunden sind und ein eigener Bereich der menschlichen Persön­lich­keit“ bilden), aber Homo­sexualität als kultur­über­greifend dar­zu­stellen. Das erreicht er dadurch, dass er zwanzig Mal von ein­vernehm­lichem Sex zwischen Männern spricht, auch von Liebe zu einem Jüngling, obwohl wir doch für den Nahen Osten nur von Vergewalti­gungen und Päderastie Kennt­nisse haben. Dass Sexua­lität im Westen als „isoliert von den übrigen Gefühls‐ und Handlungs­bereichen“ und „streng getrennt“ (273) ange­sehen wird, kann ich nicht finden. Noch seltsamer erscheint mir, dass nach Bauer „der Westen“ die Sexua­lität bewusst geschaffen habe, er spricht nämlich von dem „Projekt [des Westens], eine von allen Bereichen mensch­lichen Erlebens geschiedene Sphäre der »Sexua­lität« zu etablieren“ (274). Richtig ist, dass man ein Kraulen der Brust­haare und eine Vergewal­tigung zwecks Er­niedri­gung nicht in einen Topf werfen muss, aber komisch finde ich, dass Bauer nur zwischen Sexua­lität und Liebe zu unterscheiden weiß; nicht mal zwischen „jemanden für begehrenswert halten“ und „jmd. begehren“ macht er einen Unter­schied. Gewiss, um 1965 macht sich ein Mann in der BRD schon verdächtig, wenn er die Schön­heit eines Jünglings oder Mannes bemerkte, aber dies ist noch lange kein Bege­hren oder – was für Bauer das Gleiche ist – sich in einen Jüng­ling oder Mann Verlieben. Diese Blind­heit für Aspekte und Grade der Liebe ist umso bemerkens­werter, als Muslime darüber umfang­rei­che Bücher ver­fassten.
Da es Bauer nur darum geht, heraus­zuarbeiten, dass der Westen den Nahen Osten moralisch verdorben habe, inter­essiert ihn nicht, ob es zwischen den Liebes­theorien der islamischen Gelehrten und der west­lichen Denker bezeich­nende Unter­schiede gibt. Ich jedenfalls halte es für signifikant, dass im Nahen Osten ein­seitig gedacht wird (ich liebe x, ich begehre x, ich umwerbe x, ich ficke x), im Westen gegen­seitig   (ich will, dass x mich begehrt, ich sehne mich danach, von x wahrgenommen zu werden, ich will mit x ficken). In der reifen, westlichen Liebe oszillieren die Rollen­zuschrei­bungen, da liebt man/frau nicht nur ein Objekt, sondern man iden­ti­fiziert sich zweit­weise mit Anteilen des Andern, man ist (wenigstens phasen­weise) aktiv und passiv. Als histori­scher Materia­list bin ich der An­sicht, dass diese Art Liebe zu denken erst entsteht, wenn Frauen auch im Betrieb und der Politik Chef sein können. Ich habe in meiner Besprechung in inamo darauf hingewiesen, dass Bauers Kron­zeuge für sinnen­frohen Sex, der Imām Ghazālī, genau wie Paulus die Askese über die Ehe stellt; Ibn Qaiyim al‐Ġauziya weist eine andere Parallele mit dem Gründer des Christen­tums auf: Arsch­ficken als Ursache und Folge des Abfalls vom Glauben. Wer Islam und Christen­tum vergleicht, sollte beides studiert haben; nach meinem Eindruck hat Bauer das eine gar nicht und das andere recht selektiv studiert. Er hat bei diesem Teil­studium vieles ent­deckt. Leider schreibt er auch über die Bereiche, die er nicht studiert hat. „Kapitalisti­sches Kon­kurrenz­denken (kKD) und einfühlsame Freund­schaften sind aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (275)

Mit keinen Wort erklärt Bauer warum gerade das kapitalisti­sche KD mit Freund­schaft schlecht zusammen geht oder auch nur wodurch sich kKD von anderem KD unter­scheidet. Vorher schreibt er, dass der Araber „als »agonaler Mensch« charakte­risiert werden [muß]. Neben den bewafneten Kampf der Sippen und Stämme trat der Wettkampf in der Jagd, im Wett­rennen und im Wett­schießen. Noch wichtiger war der aber Wettkampf der Dichter“ (254). Der Araber ist also laut Bauer von Kampf­denken durch­drungen. Warum verträgt sich arabisches KD mit Freund­schaft, aber nicht kKD?

Bauers Behauptung der Bürger habe die Homosexualität erfunden, um als ganz und gar heterosexuell dazustehen (276), leuchtet mir nicht ein; ich gehe davon aus, dass es in der fraglichen Zeit (grob 1850‐1950) im Bürger­tum mehr Homo­sexuelle gab als in der Arbeiterklasse. Schön auch die Behauptung, dass im 19. Jahrhundert Kapitalis­mus, Kolonia­lismus und Psycho­anlayse „trium­phierten“ (276), obwohl letzt­genannte erst im 20. Jhd. entstand. Und dann kommt eine Formulierung, die „die ameri­kani­sche Forscher“ der Stammtische lässig toppt: „Es ist mittler­weile gut nach­gewiesen, daß die euro­päische Konstruktion der Sexualität mit dem Imperia­lismus in einem innigen Wechsel­verhältnis steht.“ (277) – sorry, „innig“ habe ich rein­geschmug­gelt, aber sonst ist es doch eine Leer­aussage; steht nicht alles mit jedem in einem Verhält­nis? „Die Macht des Westens griff nun auf jene fernen, exoti­schen Welten zu, ... wo ein Sex blühte, der die westlichen Ordnungen des Sexes gefähr­lich ins Wanken brachte.“ (277) Der Imperia­lismus schafft also Imperien, um die westliche Ordnung des Sexes vor dem Umfall zu schützen. Da sehe ich noch andere Interessen.

Bauer spricht von „Ambiguitätsdimension“ von Sex bzw. Liebe (278), wo er nach seiner eigenen Definition von Ambivalenz sprechen müsste (38, passim).
„Die wichtigste Ursache für Ambiguität ist die Plura­lität der Diskurse“ (268f.) Entweder habe ich Bauer überhaupt nicht verstanden, oder das stimmt so nicht.
Gewiss, verglichen mit heutigen Salafisten waren die Denker des klassischen Islam Rheinländer. So wie katho­lische Bischöfe am Nieder­rhein den Kohlen­klau für den Eigenbedarf freigaben und den Gläubigen erlauben, gegenüber den Ämtern (Job­cen­tern) falsche Angaben zu machen, solange Frei­beträge und Regel­sätze zu niedrig sind, so galt auch in muslimisch gepräg­ten Nahen Osten „leben und leben lassen“, „Fünfe gerade sein lassen“ und „beide Hühner­augen zudrücken“. Oder anders gesagt: Wie der Rhein­länder und der italie­nische Süd­länder, wusste auch der Levan­tiner, dass das Gesetz „auf dem Papier steht“, „das Leben aber das Leben“ ist. Aus diesem Blick­winkel ist der von Bauer kon­sta­tier­te Ab­grund zwischen Köln und Kairo gar nicht so tief und nicht so weit.
Merkwürdig auch, dass Bauer die Spannung zwischen zwei wich­tigen Grund­sätzen völlig übergeht. In tausenden von Büchern stößt man auf al‐ʾamr bi’l maʿarūf wa an‐nahy ʿan al‐munkar (das Gute be­feh­len und vom Bösen ab­hal­ten), womit in Saʿudi‐Arabien die Reli­gion­spoli­zei gerecht­fertigt wird. Im klas­si­schen Islam stehen diesem – unbe­strit­tenen Gebot – gleich drei Regeln gegen­über: die tri­vial­ste ist die Er­kennt­nis, dass es nicht großen Mutes bedarf, einen Schwachen auf seine mangeln­de Fröm­mig­keit hin­zu­weisen (über die der sich ohnehin klar sein dürfte), dass es also darum geht, dem Mächtigen, der seine Kom­pe­ten­zen über­schrei­tet, in die Schran­ken zu weisen. Das zweite Gegen­mittel ist eine der wich­tig­sten Tugen­den über­haupt: ṣabr (Geduld), was nicht nur Hart­näckig­keit/Be­har­ren, sondern auch Duld­sam­keit gegen­über Sün­dern ein­schließt. Schließ­lich gilt: Was Gott mit dem Schleier (saṭr) bedeckt hat, soll der Mensch nicht aufdecken. Es geht also einen gesitteten Bürger nichts an, was im Priva­ten ge­schieht; selbst wenn laute Musik aus einem Haus dringt, berech­tigt das nieman­den, in das Haus einzu­dringen, um zu schauen, ob dort even­tuell Wein ge­trunken wird. Der Fromme darf zwar seinen Nach­barn des­wegen er­mahnen, aber ohne ihn bloß­zustellen. Üble Nach­rede ist eine Sünde gegen Gott und die Mit­menschen.
Anders gesagt: Mir besingt Bauer zuviel die hohe „Ambi­guität­toleranz“, buch­sta­biert sie zuwenig als lebens­wirkliche Viel­falt und lais­sez‐faire aus. Er schaut mir zuviel in die Bücher, zuwenig in die Häuser, Bäder und Gärten.
Seitenlang führt Bauer aus, dass Christen beim Voll­ziehen der Ehe keinen Spass haben dürfen, ohne das irgend­wie zu belegen – das ein­zige Zitat, das er bringt, geht gegen Empäng­nis­verhütung, nicht gegen Spass dabei.
Und da ich schon bemerkt habe, dass er ein ganz priva­tes ver­zerrtes Bild von der Kirche hat, habʹ ich bei Kirchen­vätern und Scho­lasti­kern, und auch in die Beicht­spiegel aus meinem Bücher­schrank geschaut. Hier das Ergebnis:
„Habe ich gesündigt durch Miß­brauch der Ehe? durch Miß­brauch mit mir selbst? durch Rücksichts­losigkeit? durch Mangel an Opfer­bereit­schaft?“ (Gesang‐ und Gebet­buch, Trier: Paulinus 1955. S. 615)
„Habe ich die Pflichten der Ehe verletzt?“ (Schott, Messbuch, Anhang, Freiburg; Herder, 1929 – 1966 unverändert)
„Achte ich die persönliche Würde meines Ehe­partners? Bemühe ich mich, daß unsere Liebe zueinander wächst? Oder war ich eigen­süchtig, rück­sichts­los, nach­tragend, zu empfindlich?“ (www.herzmariens.de/Texte/beichte/erwachs.htm)
„Suche ich die Person meines Ehe­partners oder sehe ich in ihm nur ein Mittel zur eigenen Befrie­digung?“ (Gotteslob)
Selbst bei den Fundamen­talisten ist nur von Empfängnis­verhütung die Rede, nie von unerlaubter Lust in der Ehe.
Bauer macht viel daraus, dass im Westen mit der Natur für und gegen bestimmte Formen des Sexes argumentiert werde, die Natur sei die Hure der Moral, im Islam gebe des dergleichen mit ṭabīʿa nicht. Viel­leicht sollte er mal unter fiṭra oder ḫalq nachgucken.

Kein Lekorat
Komisch, dass bei Bauer einmal die Jurisprudenz vor aš‐Šāfʿī „an der Tradition des Propheten aus­ge­richtet“ war (42) und ein ander Mal es Šāfʿīs Werk war, „das Propheten­ḥadīth als Rechts­quelle“ zu etablieren (159). Hat er da zwei unter­schied­liche (unge­nannt bleibende) Quellen zu Rate gezogen? Nach meinem Ver­ständ­nis hat die zweite Recht: Vor aš‐Šāfʿī hat man sich an der Praxis der Gemeinde, dem Koran und ver­nünftigen Argumen­ten aus­gerichtet.
Falsche Aus­drücke, Wieder­holungen, schiefe Bilder stören – der Verlag hat wohl am Lekto­rat gespart. Sonst hätte etwa Abū‐Ḥanīfa den Binde­strich ver­loren. Mir sind auch viel zu viele „bekannt­lich“s, „also“s, „offen­sicht­lich“s und „zwei­fel­los“e drin. Verglichen mit anderen deut­schen ProfessorInnen schreibt Bauer schön, doch es ginge auch mit weniger Englisch und Latein.
Köstlich sind Formulierungen wie „Unnötig zu sagen, daß“ (270). Bezeichnen­der ist, dass Bauer „Ideo­logie“ für „ambiguitäts­feindlich, klar und totalitär“ (52, 58) hält – ohne den Begriff zu definieren oder eine Quelle für dieses Ver­ständnis des Wortes anzugeben. Dass Marx den Begriff als Ver­schleie­rung ungerechter Ver­hältnisse und als Recht­fertigung von (Klassen‐)Interes­sen charak­terisiert, ist ihm nicht bekannt

gharīb
Ein ganzes Kapitel widmet Bauer den Fremden im Islam bzw. bei Arabern. Er sagt, dass es im klassischen Arabisch weder den Begriff noch die Vor­stel­lung von Frem­den gegeben habe. Er behauptet, dass Fremd­heit im Arabischen nicht ob­jektiv von außen gedacht ist, sondern als „emotiona­ler Mangel im sich fremd fühlenden“, dass Fremd‐Sein „durch kein Wort aus­gedrückt werden“ kann. (347) Bauer ist hier auf seinem Gebiet und er hat das aus­führlich stu­diert, aber ich glaube es trotz­dem nicht. Das gleiche Wort (gharīb) wird näm­lich nicht nur auf Menschen ange­wandt, sondern auf alles mög­liche, zum Bei­spiel auf Worte im Koran, und von denen glaube ich nicht, dass sie sich in ihrer Um­gebung nur fremd fühlen; im Wörter­buch steht: seltsam, auf­fallend, un­ge­wöhn­lich, wunder­lich, eigen­artig, sonder­bar, grotesk, schwer ver­ständ­lich, dunkel, entlegen, aus­gefallen, ge­künstelt, mani­riert. [Noch zwei­mal wäre das Wort in anderem Kon­text von Bauer zu nennen: Ein Muḥammad-Spruch, der nur von einem über­mit­telt wird, heißt so (und nicht wirklich shadhdh wie Bauer schreibt), und ein Soldat, der aus einem anderen Regi­ment ab­komman­diert wird, mag sich zwar fremd fühlen, aber der wird vor allem wie ein Fremder behandelt.]
Heute zumin­dest benutzen die Araber Jerusalems das Wort genau wie wir, wenn sie von Fremden reden, manchmal benutzen sie auch al‐Khalaila (die Hebro­ner), so wie ein Bayer von „Preißen“ spricht; der Bewohner Marra­keschs hat ein be­mänteln­des und ein klares Wort für den Zuge­zogenen: Marrakschī (denn er selbst heißt nach dem Bei­namen „die Prächtige“ Bahjawī) und Barrānī (der Aus­wärtige). Besonders „freund­lich“ ist die ramallahe­sische Bezeich­nung Tai­landi für einen Gast­arbeiter aus dem Norden der West­bank oder die Bairuter für Dienstmädchen gleich welcher Herkunft: Srilankiya. Wem das nicht klas­sisch genug ist, Barbar/ʿajamī ist es gewiss. Man muss schon eine sehr rosa getrübte Wahr­nehmung haben, wenn man ernst­haft meint, der „klassisch‐islamische“ Araber sei ohne Aus­gren­zung aus­gekommen. Nur lief bei ihm die Abgrenzung eher über Verwandt­schaft (fremd­stämmig aǧnabī) und über Religion (anders­gläubig, ungläubig, ketzerisch kāfir).

Bauer klammert die Frühzeit aus, weil er "den" Vielfalt‐duldenden Islam besingen will, in dem es weniger ja‐nein gibt als sowohl‐als‐auch, weniger richtig als wahr­scheinlich. Nun ist es aber so, dass die Dogmatiker immer und über­all – oder vor­sichtiger gesagt: im Westen wie im Nahen Osten – eher auf ja‐nein behar­ren und die Juristen sich überall mit Mit‐an‐Sicher­heit‐gren­zender‐Wahr­schein­lich­keit zufrieden geben.
Indem Bauer die Früh­zeit, in der Glau­bens­fragen eine große Rolle spielten, links liegen lässt, und díe Epoche her­aus­stellt, in der Juristen den Ton angaben, erscheint der Islam als weicher. Die vielen Fälle, in denen in Bauers Mittel­alter Gelehrte ins Gefängnis kamen, wegen schiʿiti­scher, anthro­po­mor­pher oder sonsti­ger Ab­weichungen, lässt er – natürlich – uner­wähnt.
Auch sonst ist er selektiv blind. Die Muʿtazi­liten, „angeblich rationa­listi­sche“ Lieb­linge des Westens, seien „rigoros“ für die ewige Hölle gewesen, wo hin­gegen beim sun­niti­schen Haupt­strom alle Muslime im Paradies Sex haben. Das Ar­gument der Muʿta­zila unter­schlägt er: Wenn ein Christ wegen der Sünde des Un­glaubens ewig bren­nen muss, dann ist es doch nur gerecht, dass ein Muslim wegen un­bereu­tem Lust­mord ewig be­straft wird. Er tut so, dass die Rati­ona­lität der Muʿtazila nur orienta­listische Pro­pa­ganda war, und den Wert von Gerechtig­keit gegen­über gött­licher Ty­rannei er­kennt er nicht.
Er tut auch so, als habe man im post­forma­tiven Islam alles und jedes un­glauben dür­fen. Die Locker­heit in man­chen Fra­gen her­aus­zustellen ist Bauers Ver­dienst. Leider über­sieht er, dass diese Locker­heit auf der siche­ren Stellung seiner Pro­ta­gonisten, den männ­lichen, sunniti­schen Gelehrten, Büro­kraten und Herr­schern, beruht und dar­auf, dass das Dogma/ʿaqīda jeder Kritik ent­zogen ist, und das ist eine ganze Menge:
Gott ist der all­mäch­tige, ewige Schöpfer und Erhal­ter der Welt,
alle mensch­lichen Hand­lungen hat er geschaffen,
Muhammad ist der letzte seiner Ge­sandten,
der Koran sein un­ge­schaf­fenes Wort,
es gibt Engel, Geister, Offen­ba­rungs­bücher, das Jüng­ste Gericht, Hölle und das Para­dies,
die ersten drei Kali­fen waren recht­ge­leitet …
Während es in der forma­tiven Phase noch Mani­chäer und Skep­tiker gab, und während man im moder­nen Europa Alles in Frage stellen kann, war das im Nahen Osten durch­aus anders. Natür­lich unter­schlägt Bauer, dass das Dogma zu akzep­tieren ist, ohne es ver­stehen zu wollen (bilā kaif), und dass nach Ibn Ḥam­bal das Offen­lassen von Glau­bens­punk­ten noch schlimmer ist, als Falsches zu glauben.
Nur so kann Thomas Bauer die Posi­tion heu­tiger saʿudi­scher Ge­lehrter als völlig von der Tra­dition abge­schnit­tene, west­liche Haltung – wenn auch mit ande­rem Inhalt – dar­stellen. Er macht des Guten zu viel.

Zur Umschrift
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich bei der Um­schrift ver­suche, die ara­bische Hoch­lautung wieder­zugeben und nicht die Schrift. Die Wie­der­gabe der Schrift (Trans­litera­tion) ist nur dann sinn­voll, wenn die Leser mit der ara­bischen Schrei­bung vertraut sind, aber ara­bische Lettern tech­nisch nicht zur Ver­fügung stehen; für Biblio­thekare em­pfehlen einige ein Misch­system. In allen anderen Situa­ti­onen führen nur Dumm­heit oder gedanken­loser Tra­di­ti­ona­lis­mus zu in­kon­se­quen­ten Um­schriften, wie Ḥanbal obwohl Ḥambal ge­spro­chen wird ([mb] wird auf Arabisch immer nūn + bāʾ geschrieben und „un­beweg­tes“ nūn + bāʾ  wird immer [mb] ge­spro­chen). Bauer liefert viele Bei­spiele inkon­sequen­ter Um­schrift. Der Gipfel­punkt der Ver­schmockt­heit: „ich füge den ara­bischen Text hinzu; um einen akustischen Eindruck vom Klang des Ori­gi­nals zu bekommen, muß ... ‐an als ā ausgesprochen werden.“ (120). Warum schreibt er dann nicht ā – zumal im Arabischen ā geschrieben wird? Noch ein Beispiel: gharībun bi‐hādhihī l‐bilādi ghurbataini (344); am Ende von hādhihi ist weder ein ī/yāʾ geschrieben, noch wird hier ein langes ī gesprochen. Ich weiß, dass Bauer nicht der einzige deutsche Orientalist ist, der so verfährt. Dennoch ist es grotten­falsch.
Soweit meine Besprechung in inamo 70, Sommer 2012

Jetzt noch ein Abschnitt aus einem Vortrag, den Lutz Berger 2018 in Würzburg gehalten hat, den man ganz im Netz findet (plus meinem Einschub über nordisches Klima)

Ich glaube, es ist in diesem Kontext wichtig, die Felder, in denen Am­bigui­täts­toleranz postuliert wird, in den Blick zu nehmen. Ambigui­täts­toleranz herrschte im Bereich der Einzel­fragen der Religion, vor allem soweit diese poli­tisch unge­fährlich waren, viel­leicht im Bereich der Sexualität, soweit sie nicht erb­recht­lich relevant war, in einer Li­tera­tur, die nicht unbedingt als littéra­ture engagée ange­sehen werden kann. Die Freude am sprachlichen Spiel, der Stolz auf be­sonders ele­ganten Aus­druck, am Über­raschenden ist gerade da besonders groß, wo die elegante Form im Mittel­punkt stehen kann, wo man l'art pour l'art betreibt und nicht die Not­wendig­keit der Über­mittlung einer Botschaft die Freude an der Form erstickt. Alles, was mit politischer Macht, mit Besitz, mit sozialem Status zu tun hatte, war keines­falls Gegen­stand einer beson­deren Toleranz gegen­über Zwei­deutig­keiten. Die strikte Trennung von männ­lichen und weiblichen Sphären, von der oben bereits die Rede war, diente der Ver­meidung jedweder Ambi­guität in Hinblick auf Unter­halts- und Erban­sprüche.
Ich würde daher postulieren, dass die Freude an der Ambiguität und die Vielzahl der Felder, in denen sie zum Aus­druck gebracht werden konnte, etwas zu tun hat mit der Trennung der Sphäre der Intel­lek­tuel­len und Gelehrten, die Bauer unter­sucht, von der der poli­tischen Macht, die er nur am Rande behandelt. Ambi­guitäts­freude der Intel­lektuel­len ist Aus­druck des weit­gehenden Fehlens einer über­regiona­len politischen Öffentlich­keit, einer gelehr­ten Debatte über Macht und Politik. Über Macht­fragen entschied in der Regel das Schwert, nicht die öffent­liche Meinung der Gelehrten.
Die Bereitschaft, in politisch rele­vanten Fragen Meinung und Gegen­meinung öffent­lich und gleich­berechtigt neben­ein­ander­zustellen und die damit zu­sam­men­hängen­de Ambi­guität ausz­uhalten, war, so­weit ich sehe, in vor­modernen Ge­sell­schaften generell, jeden­falls aber in den isla­mi­schen Gesell­schaften der Epoche, die Thomas Bauer in den Blick nimmt, selten so groß wie in der klas­sischen europäi­schen Moderne, die doch in unserer Post­moderne gemein­hin gerade auf Grund ihres Drangs nach Ein­deutig­keit kri­tisiert wird. Was könnte von größerer Toleranz gegen­über wider­sprüch­lichen poli­tischen Wahrheits­ansprü­chen zeugen als das so moderne Konzept von „Her Majesty's loyal opposition“?

Ist Ambiguitätstoleranz ein spezifisch vor­der­orien­talisches Phänomen?
Ich würde auf den ersten Blick die These unter­stützen, dass im Ver­gleich mit west­euro­päischen Gesell­schaften vorder­orien­talische ten­den­ziell unein­deutiger waren. Das ergab sich daraus, dass dort in der Vormoderne zentrale und struk­turierte Institu­tionen der Normie­rung von Denken und Verhalten fehlten. Es gab keine Kirche, schon gar keine Inquisi­tion, der Unterricht war lange Privatsache und blieb dauerhaft viel stärker von den selbstbestimmten Interessen der Ler­nen­den geprägt als im Westen. Was die höheren Studien angeht, än­derte sich das in der Osmanen­zeit bald nach 1500, aber nur für die, die im Staatsdienst Karriere machen wollten.
Was für die intellektuelle Welt galt, galt auch für die Gesell­schaft als Ganzes: Eine Stände­ordnung, die jeden in einen vor­gegebenen Le­bens­weg zwang, bestand nicht. Natürlich konnte nicht jeder vom Teller­wäscher zum mächtigen Günstling des Herrschers aufsteigen. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die soziale Ordnung deutlich offener war als in Alteuropa. Das Kon­zept der Privat­heit, das einem jeden die Möglich­keit gab, in seinem eigenen Bereich zu leben, wie er es für richtig hielt, verbunden mit dem Respekt vor den privaten Le­ben­ent­schei­dun­gen einzelner, war deutlich stärker ent­wickelt. Un­terschied­liche religiöse Gruppen lebten neben­einander – sicher mit klarer Rang­ordnung, aber doch deutlich spannungs­freier als in West­europa vor dem 18. Jh. All das schuf Voraus­setzungen für Ambi­gui­täts­tole­ranz, die in Westeuropa so nicht existierten.
Einschub Arno Schmitt: In Nord- und Mittel­europa schliefen Herrschaft und Gesinde, Männer, Frauen und Kinder – oft auch Tiere – im gleichen Zimmer – beim ein­zigen Feuer, über oder neben dem Stall. Im Mittel­meer­raum und beim Golf­strom war es einfacher, Einzelzimmer zu bewohnen.
Auch hier haben histo­rische Mate­ria­listen einen anderen Blick auf Phäno­mene der sozialen und der geistigen Welt als Idea­listen.
Aber können wir mit dieser These sicher sein? Können wir Ambigui­täts­toleranz objektiv messen? Ließen sich nicht, suchte man aktiv da­nach, zahl­reiche Bei­spiele für Ambigui­täts­tole­ranz auch in der alt­euro­päischen Kultur anführen? Waren westliche Reisende der Mongo­len­zeit von Wilhelm von Rubruk bis Marco Polo weniger unaufgeregt als Ibn Fadlân? Konnten Geist­liche der mittel­alter­lichen Kirche sich nicht für die Literatur der heidnische Antike be­geistern oder un­züch­tige Vaganten­lyrik ver­fassen? Waren im Hause des christ­lichen Gottes nicht auch viele Wohnun­gen, so dass die Pracht der Bene­dik­tiner neben der Armut der Franzis­kaner stand?
Oder, um den Blick fort von Europa nach Ostasien zu wenden: Finden sich nicht in den Literaturen Chinas und Japans zahl­lose Bei­spiele für bewusste Unklar­heit und Doppel­bödig­keit, die denen der muslimi­schen Litera­turen in nichts nach­stehen?
Wenn wir von Literatur sprechen, können wir die Frage stellen, ob lo­gi­sche Strin­genz in Hand­lungs­ablauf und Charakter­zeich­nung in vor­modernen Litera­turen auch des euro­päischen Mittel­alters stets eingefordert worden ist. Hat man nicht hier oft Unklarheit und Zwei­deutig­keit toleriert, einfach, weil die Idee der logischen Stringenz von Erzählung genauso wenig zwingend ist wie die per­spek­tivische Dar­stel­lung in der Malerei.
Gleichviel: Vormoderne Kulturen, so möchte ich in aller Vorsicht for­mu­lieren, haben eine Tendenz, bei der Beschreibung der Welt unein­deutig zu sein. Die dauernde Einforde­rung von Ein­deutig­keit, Nor­mierung, Rechen­haf­tigkeit und das Streben nach dem Aufweis klarer Kausal­bezie­hungen in allen Bereichen von Welt­beschre­bung und -erklärung ist zweifels­ohne ein Phänomen der west­euro­päischen Mo­derne genauso wie ihres nahöst­lichen Gegen­stücks und unter­scheidet beide von den Epochen davor.
Die west­euro­päische Moderne ist aller­dings beim Beschrei­ben und Beherr­schen von Welt erfolg­reicher als die Moderne des Vorde­ren Orients, weil sie seit dem 17. Jh. die Vor­läu­fig­keit jeder ein­deutigen Beschrei­bung ange­nommen hat: ein zu­tiefst ambi­ges Kon­zept. Die Menschen im Vorderen Orient haben Moderne seit dem 19. Jh. auch als Kontroll­verlust wahr­genommen. Sie waren daher schlechter in der Lage, die Ambi­guität, die darin liegt, dass man einer­seits exakt beschreibt, erklärt und nor­miert, anderer­seits die Ergeb­nisse dieses Pro­zesses immer nur für vor­läufig hält, zu ertragen.
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Sonntag, 2. Juni 2019

kEIN Standard ‒ osmanisch ‒ türkisch

Meine Kernaussagen:
DEN rasm ʿUṯmānī gibt es nicht, sondern mehrere.
DEN Standard für Koranausgaben gibt es nicht, sondern mehrere.
Und so richtig gibt es Standards erst, seit es Druckausgaben gibt.
Gewiss, westafrikanische Handschriften glichen einander,
osmanische Handschriften glichen einander,
persische waren zueinander ähnlicher als zu osmanischen und indischen.
Indische Handschriften glichen einander,
nordindische mehr nordindischen, ostindische mehr ostindischen,
westindische mehr westindischen, südindische mehr südindischen.
Aber erst dank des Drucks konnten nicht nur wenige Reiche und Gelehrte mehr als eine Ausgabe besitzen; erst seit viele einen hatten, verglich man sie und störte sich an kleinen Unterschieden.
Erst der Druck schuf den Druck zur Standardisierung.
Erst seit fünfzig Jahren haben wir richtige Standards.
Der Maghreb und Indien haben schon lange von Gelehrten ‒ nicht einer Behörde, einer mächtigen Kommission ‒ entwickelte Standards.
Persien und das osmanische Reich hatten Schreib­traditionen mit etwas Band­breite, mit etwas Spiel.
Auch wenn seit Bergsträßer immer wieder ‒ bis heute ‒ Orienta­listen den Gizeh-Druck von 1924 als Standard bezeichnen, ist er das nicht.
Gewiss seit Saudi-Arabien einen dem 1952er "Zweitdruck" ‒ der an über 900 Stellen vom "Erst­druck" abweicht ‒ von ʿUṯmān Ṭāhā nach­geschriebenen muṣḥaf millionen­fach nachdruckt, gibt es einen ost­arabischen Standard ‒ neben dem türkischen, dem des irani­schen Zentrums für Druck und Ver­breitung des Korans, neben den indo­nesi­schen (von 1983, 2002 und 2018),
sowie dem zahlen­mäßig dominie­ren­den indo-pakistanischen.

Und gleich noch eine Kernaussage:
Es gibt zwar ZWEI HAUPTstandards, den afrikanischen und den asiatischen, aber man kann auch von Tausenden ausgehen,
denn die vielen Dimensionen der Verschrift­lichung sind frei kombinierbar:
‒ Klanggestalt (Lesarten, Verschrift­lichung der Vortrags­regeln),
‒ Buchstabengerüst (rasm plus dia­kriti­sche Punkte, Quranic Conmmon Text (QCT), cf. ad-Dānī: al-Muqnī),
‒‒‒ manchmal fokusiert man den rasm pur, meist aber kann man ihn gar nicht von den Punkten trennen, ohne diese hat er ja keinen Sinn. Punktierung wird bei den Les­arten berück­sichtigt, da geht es ja nicht nur im Vokale und Buch­staben­ver­doppe­lung, sondern auch um ṭ <> ẓ, ṣ <> ḍ, ʿ <> ġ, b/t/ṯ/n/y, r <> z, f <> q
‒ die Notation stummer und die verkürz­ter Vokal­buch­staben, sowie die langer Vokale,
‒ Einteilung plus Pausen (ǧuz, ḥizb, ruquʿ, Siebtel, Seite, Vers, Pausen­system, Pausen­stellen, Bekräftigung, Nieder­werfung {im Text, am Rande}, Kustode),
‒ Graphisches (wieviel Zeilen je Seite, ein Duktus für den Text, einer für die Basmala, einer für die Surentitel, Ziffern im Text oder am Rand).
Selbst Experten gehen einfach davon aus, dass man vom Duktus auf die Lesart schließen könnte,
oder von der Lesart auf die rasm-Autorität.
So ein Quatsch!
Sie schreiben von »version du Caire« oder »version du Maroc« statt von der Lesart-Überlieferung Ḥafṣ bzw. Warš oder von der Schreibung nach Ibn Naǧāḥ oder ad-Dānī oder der "iranischen vom Zentrum für Druck und Verbreitung" oder der "neuen indo­nesischen" oder von "ʿUṯmān Ṭāhā II, also Kairo1952 in der neuen Fassung des König-Fahd-Komplexes".
Gewiss die verschiedenen Dimen­sionen machen allein keinen muṣḥaf, aber wenn man ver­schiedene ver­gleicht, sollte man sich bewusst sein, WAS man vergleicht, dann sollte man das, worauf es (einem) ankommt und das Bei­werk deutlich unter­scheiden.

Also nochmal: der rasm, das unpunktierte Buch­staben­gerüst ist ‒ abgesehen von 40 Stellen und einigen Vokalbuchstaben ‒ immer gleich.
Differenzen beschränken sich weitgehend auf ya- statt ta- (oder nu-), fa- statt wa-, šadda oder nicht, Passiv oder nicht.
Bei den Lang­vokalen geht es meist nur um verschiedene Schreibung des gleichen Lautwertes.
Wirklich immer gleich sind die 114 Suren, auch wenn es unter­schiedliche Namen gibt ‒ aber immer in der gleichen Reihen­folge.

2018 verglich Marijn van Putten 23 Stellen im Kairiner Druck mit alten Handschriften
und stellte fest, dass die meisten die gleiche Verteilung von niʿamt Allāh mit tāʾ mamduda und mit tāʾ marbuṭa haben.
Hätte er das mit den 23 Stellen in einer beliebi­gen maghrebi­nischen, indischen, indo­nesi­schen oder türki­schen gemacht, wäre er zu dem gleichen Er­gebnis gekommen.
Nur weil er eine bestimmte Ausgabe als "Standard" mit den Hand­schriften verglich, bestätig­te er quasi ihr Standard-Sein.
Ganz nebenbei: Nicht an allen 23 Stellen steht niʿamt Allāh.

Noch 1960 dominierte eine osmanische Vorlage den syrischen Markt. Noch 1980 druckten drei arabische Staaten eine andere osma­nische Vorlage nach. Der ʿIraq noch zwei weitere. Inzwischen ist das Geschichte.
Heute schreiben nur noch Azerbai­dschan und die Türkei osmanisch,
wobei die Türkei einige Ver­änderungen vor­genommen hat:
u.a. wurde die Unterscheidung von Madda im Wort und an der Wort­grenze getilgt:



was nicht mehr so nötig ist, seit die meisten Drucke Wortabstand haben,
ferner wurde das waṣl-Zeichen getilgt ‒ sei es dass man sich in der Behörde wunderte, dass es mal steht (wie in Kairo), mal fehlt (wie in Indien), sei es, dass sie merk­ten, dass es nur steht, wenn ḥārf sākin folgt (meist ein an den näch­sten Kon­sonanten as­simi­liertes lām; es folgt also ein Buch­stabe mit sukûn oder ein lām vor einem Buch­staben mit šadda) ‒ da es regel­haft stand, kann man es weg­lassen.
Schließlich bekamen alle Drucke die genau gleichen Seiten. Böse gesagt, besteht für die heutigen Türken der Koran nicht mehr aus 114 Suren bzw. 558 Gebets­einheiten, sondern aus 605 Seiten.



Hier bin ich sicher, dass HO2 das nicht zweimal geschrieben hat,
aber auch die ältere Fassung ist nicht 100% die Hand­schrift.
Schon im älteren Druck sind die Vers­Nummern eingefügt und die ihmal-Zeichen und waṣl-Zeichen getilgt.
Die neuen Herausgeber stellen die neuen türkischen Norm­seiten her,
ayat berkenar ist nicht mehr genug; es muss immer das gleiche sein.



Im Orignial stehen die Vokalzeichen nur in der richtigen Reihenfolge, nicht genau beim Buchstaben:

Am Beginn von Ṭaha 94 sieht man zweilerlei:

1.) Die Türken vereinheitlichen alles:
Wenn nicht überall waṣl steht, kommt es überall weg!
Wenn unter einigen wau-hamza qṣr steht, kommt es überall hin,
wo wau-hamza nicht sowohl ḥarf al-madd und hamza-Träger ist.
Ḥasan Riḍā und Muḥ Amīn ar-Rušdī (2. und 4. Zeile, jeweils iraqi­sche Aus­gaben, die außer Vers­nummern und Suren­titel nichts ver­ändern) haben es nicht ge­setzt, weil sie keine Gefahr sahen, dass man es /ūʾ/ lesen könne.
1a) Diyanet tilgt alles, was es nicht versteht. In der obersten Zeile (die 14. Auflage eines Nach­drucks von Hafiz Osman, 1987) steht das waṣl-Zeichen noch, das man deutlicher in der dritten Zeile (Hafiz Osman Original) sieht ‒ heute ist es weg.
Sie haben nicht mehr verstanden, dass es an das (fehlende) alif-waṣl von Ibn erinnern soll.
2.) Die Türken nähern sich dem saudi­schen Standard ‒ still­schweigend ‒ an.
Jetzt schreibt man wie ad-Dānī es vorschreibt: drei Wörter als ein Wort,
was aber völlig okay ist. Zumindest im 1309er (hiǧri) muṣḥaf hat Hafiz Osman Junior selbst schon in einem Wort ge­schrieben.
Diyanet macht oft nur eine Collage, ver­schiebt auch Zeichen oder tilgt ein alif.
Sie bringen aber auch eine Ausgabe im Com­puter­satz heraus:

Hier die erste Zeile des letzten ǧuz im Vergleich: aus dem letzten von Hafis Osman Qayşzade geschriebenen muṣḥaf (heute in University of Michigan),
aus der Ausgabe Diyanet 2018
aus der südafrikanischen Taj-Ausgabe (mit 13 Zeilen je Seite,
        Waterval Islamic Institute, Johannisburg)
aus ʿUṯmān Ṭaha Medina

In the first and in the last line there is no extra space between words.
In the Ottoman text (first line) nabaʾi has a silent alif (silent because bāʾ has a normal fatḥa ‒ not a straight one).
Nethertheless, both rasm and sound are identical in all editions.
Mit etwas mehr Kontext, erst zweimal von HO Senior, dann zwei­mal vom Junior ‒ erstes und viertes aus Drucken, die mittleren aus Hand­schriften ‒ die ersten drei Original, die letzte Zeile be­arbeitet..

Montag, 27. Mai 2019

osmanische Drucke I

Eines der anregendsten Bücher zum Urkoran, Urislam stammt von einem Forscher, der davor für ganz Anderes bekannt war, dem Berner Berliner Reinhard Schulze:
Der Koran und die Genealogie des Islam
Trotzdem habe ich gerade eine Fußnote zu frühen Drucken geändert. Ich hatte mich darin auf Schulze und Bobzin (der sich auf Chauvin verlässt) ver­lassen. Da Schulze münd­lich mit­teilte, die frühen persischen, benga­lischen und osma­ni­schen Drucke, die er erwähnt hatte, in der Uni-Biblio­thek zu Bonn ein­gesehen zu haben, der Bib­lio­theks­kata­log aber keines der drei Exem­plare kennt, und sich die Exper­ten einig sind, dass es in Kon­stanti­nopel vor 1873 keine ‒ legalen ‒ Drucke gab, habe ich "seine" drei Drucke raus­geworfen.
Bevor ich zu den ersten Drucken in Kon­stanti­nopel komme,
von Google via Wiki­pedia zur Ver­fügung gestellte Anfangs­seiten eines osma­nischen Korans ‒ in Nastaʿlīq.

Wenn seitenlang über einen muṣḥaf geschrieben wird, wie es Michael W. Albin im Artikel "Printing of the Quran" der Encyclo­pedia of the Qur'an über den angeb­lich ersten im osma­nischen Reich, nämlich in der ägypti­schen Provinz des­selben, gedruck­ten macht, um am Schluss anzu­deuten, dass es ihn gar nicht gab, dann bin ich ent-zückt.
Deshalb gleich zu Beginn: die beiden ersten offi­ziellen osma­nischen Litho­gra­phien habe ich nicht gesehen, will sagen: im Netz kein Bild davon gefunden,
dass es sie viel­leicht ‒ trotz der reich­lich Literatur dar­über ‒ nie gab:
Der erste soll von Aristide Fanton 1871/2 in London auf der Grund­lage eines muṣḥaf von Hafiz Osman dem Älteren, den Natıq Kemal besorgt haben soll, her­ge­stellt worden sein.
Der zweite ‒ erste IN Konstanti­nopel mit dem Segen des Staates ‒ gedruckte soll die Kopie eines von Şeker­zade Mehmed Efendi (d. 1166/1753) IN Medina geschrie­benen sein. Heute gibt es einen Reprint, ob von der Handschrift oder vom 1291/1875er Druck bleibt unklar.
((Nachtrag: M. Brett WILSON hat mir Bilder aus beiden Drucken zur Verfügung gestelle, dazu ein neuer Post.))
Sicher gibt es seit 1873 eine Flut von Drucken, meist von Hafiz Osman dem Jüngeren oder von Muṣṭafā Naẓīf geschrieben.
Manche in Moschen-Größe, manche auf schönem Papier mit Gold­rahmen.
Solche wurden an Moscheen, Schreine, Stif­tungen und Staats­männer ver­schenkt.
Andere kleiner, billi­ger. Sie wurden nicht nur von Kalli­graphen zum Kopieren, von Gelehrten zum Studieren, sondern auch von Hand­werkern, Kauf­leuten und Gesell­schafts­damen gekauft und in großer Zahl Schulen zur Ver­fügung gestellt.
Sie wurden in Kairo eher selten (meist mit Tafsir), in Syrien immer wieder (bis 1960) ge­druckt.

Zumindest bis zu dem Krieg, den isla­mistisch-militante ara­bische Staaten gegen die syrische Regie­rung an­zet­telten, wurden in Aleppo "osma­nische" Koran­texte gedruckt.

und bis 1990 im ʿIrāq zwei ver­schiedene von staat­lichen Stellen gedruckt. In der Türkei sind sie schon lange (seit siebzig Jahren ????) meist (oder immer?) an den Standard der Religions­behörde ange­passt.
Doch selbst 1956 erschien in Kairo der 522seitige von Muṣ­ṭafa Naẓīf ganz original (bis auf Vers­ziffern statt Vers­ende­markie­rungen).
In Kein Standard gehe ich auf den ʿirāqischen Staats­druck ein (666+ Seiten mit 13 Zeilen): 1370/1951 war der Erst­druck in der Maṭbaʿat Mudīriyyat al-Masāḥa al-ʿAmma; 1386/1966 für den Irāq von Lohse, Frank­furt; 1398/1978 im Gebet­buch­format mit Reiß­verschluss für die suʿudi­schen Regierung in West­deutsch­land; 1400/1979 in Qaṭar; 1401/1981 für Ṣaddām neu her­aus­gegeben. Die Vor­lage war 1236 von Muḥammad ʾAmīn ar-Rušdī geschrie­ben worden und 1278 von der Valide von ʿAbd al-ʿAzīz dem Schrein Junaids in Baghdād geschenkt worden, heute in der Biblio­thek des Grabes des Imām al-ʾAʿẓām ʾAbū Ḥanīfa aufbewahrt.
In ähnlicher Aufmachung gab es Drucke von Ḥafiz ʿUṯmān und Ḥasan Riḍā.

rechts die Titelseite der Ausgabe Muḥ A. ar-Rušdī, in der Mitte die von Ḥasan Riḍā, links die Heraus­geber­schaft ‒ Heute gibt es im ʿIrāq zwei Behörden: Dīwān al-waqf as-sunnī und ... aš-šiʿī; beide geben maṣāḥif auf 604 Seiten heraus; die Sunniten über­nehmen für den Text Vektor­gra­phiken aus Medina (UT1), die Schi'iten haben den ʿirāqi­schen Kalli­graphen Hādī ad-Darāǧī schreiben lassen.
(Später werde ich noch einen Tehraner Druck vorstellen.)
rechts die erste "normale" Seite von M.A.ar-Rušdī, links von Ḥasan Riḍā:

Beachtenswert:
‒ in Zeilen 3,5,6,7,9: Wortgrenze zwischen Alifs
‒ in Zeile 2: vor (10) das hoch­gestellte yāʾ, welches Zehn be­deutet
‒ einige untergesetzte Ihmal-Zeichen, die sagen: kein Punkt

‒ genau wie bei Rušdi gibt es vor ḥurūf sākina   waṣl-Zeichen auf führen­dem Alif, sonst nicht. ( waṣl-Zeichen steht vor ḥarf sākin, also vor einem Buch­staben mit sukûn oder vor weg-assimiliertem lām vor Buchstaben mit šadda; das waṣl-Zeichen ist über­flüssig; heute (im Stan­dard der türki­schen Republik) wird es weg­gelassen.)
‒ Das /fī/ in Zeile drei besteht nur aus Fehlern: Was machen die Punkte beim End-yāʾ? Was macht das Lang­vokal­zeichen vor Doppel­konsonanz? Und wieso steht das (Lang-)kasra über dem yāʾ statt darunter? ‒ Ist aber üblich so.
‒ in den Zeile 1,3 und 7 gibt es ǧazm-Zeichen über ḥurûf al-madd.
— dass man den Bezug zwischen ǧazm-Zeichen über dem ḥarf al-madd der ersten Zeile besser sieht, habe ich die Zeichen so plat­ziert, wie sie nach "modernem" Ver­ständnis sitzen müssen.


Freitag, 24. Mai 2019

Kairo 1308/1890




Hier die erste Stelle, an der man erkennt, dass nicht mehr "asia­tisch" geschrie­ben wird ‒ mit sieben Vokal-Zei­chen ‒, sondern "afrika­nisch": mit kleinen ḥurūf al-madd, wo er im rasm fehlt während man in Indien (Per­sien, Indo­ne­sien) ein LANG-ḍamma (auf Urdu "ge­drehtes ḍamma" الٹة پيش ulṭa peš. genannt).


In der Türkei und in Indien
jedoch mit gedrehtem kasra:
Hier 2:31 mit ʾādam "afrikanisch" also mit hamza-Zeichen vor dem Alif
statt "asiatisch" mit Lang-fatḥa nach dem Alif.
Nun Seite 3 mit einem osmanischen Text, dem von Būlāq 1313/1895, einer Warš-Ausgabe, der Kairiner Lithographie von 1308/1890 (muṣḥaf al-Muḫallalātī) und dem des Gizeh-Drucks.

Die Drucke von 1890 und '95 nehmen Gizeh24 vorweg; die "Revolu­tion" war keine.

Afrika vs. Asien (Maġrib oder IPak)

Es gibt viele verschiedene Arten, den Koran zu schreiben. Man kann sie in zwei Gruppen einteilen: Afrika, Andalusien, (seit 1924 bzw. 1980...