Samstag, 14. Dezember 2019

osmanisches Reich ‒ Türkische Republik

Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert wurde in Istan­bul viel experi­mentiert.
Mit gesetzten Ausgaben ‒ mit Erläuterungen oder Über­setzung in Osmanli.



alle drei: Privatbesitz Ismailoğlu @IsmailogluF
Und dann kam der Fortschritt:
arabischer Kuran in türkischen Buchstaben:






oder "tefsir": kommendierende, para­phra­sierende Über­tragung
oder "tercüme": poetische Übertragung, die dann auch ge­betet werden soll (Vorbild: King James & Luther)
oder "meal": knappe Verständnishilfe ‒ neben dem ara­bi­schen qurʾān, dass klar ist, dass er nicht ersetzt werden soll. Die vierte Option hat sich durchgesetzt.
Alles war im Fluss.

Nicht einmal die Richtung des "Halb"mondes war klar.
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trau dem Faksimilie

Während man einen Reprint für 10 € bekommt,
muss man für ein Faksimilie -- ob vom türkischen Tourismusministerium, einer Stiftung oder von Privat -- mindestens tausend Euro ausgeben.
Dafür ist es auch so, wie in der Handschrift.



Samstag, 30. November 2019

trau dem Reprint!

Ich habe geschrieben "Trau keinem Reprint".
Das ist unklar.
Ich meinte nicht: Trau keinem Reprint als Koran,
sondern: Trau keinem Reprint als bildgetreue Wiedergabe der Originalhandschrift.
Hier zwei Stellen aus dem Istanbuler Original des 604seitigen muṣḥaf von MNQ -- leider nur Graustufen --;
man erkennt, dass das Pausenzeichen mulaq nicht schwarz war
(es war rot):

In der zweiten Zeile fehlt ein yāʾ;
man kann aber das alif als Hamza-Träger lesen,
denn in der östlichen Schreibung
schließt ein Vokalzeichen (hier kasra) auf/unter Alif Hamza ein.
Das hat den Vorteil, dass man das Alif nicht als ḥarf al-madd lesen kann; es ist ja stummer Träger.
Es ist also nicht falsch. Und es wird auch so in Indonesien nachgedruckt.
In Tehran passte man diese Stelle der Parallelstelle an:

Samstag, 23. November 2019

ar-rasm al-ʿUṯmānī <--> "ar-rasm al-ʿUṯmānī"

Es gibt Leute, die glauben ein bestimmter muṣ­ḥaf stamme vom Khalifen ʿUṯmān,
obwohl er in einem Schreib­stil/Duk­tus geschrieben ist, von dem Experten meinen, dass er erst hundert Jahre später aufkam.
Es gibt Leute, die glauben ein bestimmter muṣ­ḥaf stamme vom Khalifen ʿAlī,
obwohl er in einer Ortho­graphie geschrieben ist, die frühesten hundert Jahre später aufkam (sich noch später durch­gesetzt hat).

So einfältig, so leicht­gläubig sind Experten nicht.
Trotzdem gibt es welche, die "fest­stellen",
eine Handschrift sei im ʿuthmanischen rasm geschrieben,
obwohl wir von keiner Handschrift wissen,
dass sie eines der maṣāḥif al-amṣār sei,
oder eine genaue Abschrift davon,
obwohl wir keine Bericht über sie von Zeit­genossen haben,
obwohl wir nicht wissen, welchen rasm die Standard­hand­schriften hatten.

Was wir haben sind Schriften ÜBER alten Handschriften,
welche Gelehrte, die nie in Kufa, Basra, Damaskus, weder in Bahrain noch im Jemen gewesen sind, Jahr­hunderte später ge­schrieben haben.
Da sich damals schon sieben, zehn, vierzehn kanonische Lesarten etablier­ten hatten,
die nicht nur als grammati­kalisch korrekt galten,
nicht nur vielfach überliefert (die ersten zehn) oder wenigstens anerkannt waren,
sondern angeblich auch mit "dem ʿuṭmānischen rasm" übereinstimmten,
die aber an etwa 40 Stellen Abweichungen hatten, die nicht durch Zusatz­zeichen (Dia­kritika, Vokal­zeichen, Verdopplungszeichen, hamza-Zeichen) sondern zusätzliche bzw. fehlende Buchstaben geschrieben wurden,
hat man flugs aus dem EINEN ʿuṯmānischen muṣḥaf deren Fünfe gemacht.
((Sorum wird es wohl gewesen sein:
  Die verschiedenen Leser haben nicht unterschied­lich gelesen,
  weil sie verschiedene maṣāḥif benutzten,
  sondern man ging von verschiedenen maṣāḥif aus,
  weil sie unterschiedlich lasen
  -- ad-Dāni lebte 120 Jahre nach Ibn Muǧāhid.   Marijn van Putten beweist, dass ich falsch liege!!))
"Der ʿuṭmānische rasm" ist ein Glaubensfakt.
Den ʿuṯmānischen rasm kennen wir (noch) nicht,
(Nachtrag: Marijn van Putten ist dabei einen Text zu publizieren, wie er in den frühen Manuskripten steht.) er stimmt sicher nicht mit "dem ʿuṭmānischen rasm" überein.

Dies nicht auseinanderzuhalten, ist unwissenschaftlich.


Es geht auch nicht an, bei der Ortho­graphie der frühen Hand­schriften
matres lectionis "schwache Buchstaben" zu nennen, weil alif, wau und yāʾ
in einem ganz anderen Zusammenhang (bei der Wortbildung) so genannt werden.
Genausowenig darf man alif als hamza, als Wortende-Anzeiger und als a/ā-Platz­halter
in einen Topf werfen.
Differenziert denken!
Differenziert sprechen!

Und sollte ich nicht genau sein,
dann kritisiere man es bitte!
Und ich bin bereit, mich belehren zu lassen.
Zum Glück sind einige Forscher dabei, sich die alten Handschriften genau anzuschauen. Marijn van Putten stellt nicht nur fest, dass die ältesten Handschriften anders geschrieben wurde, als die von ad-Dānī herangezogenen, sondern auch, dass sie so gelesen wurden, wie sie geschrieben wurden -- also nicht mit durchgehend mit Kasus­endungen und tanwīn.

Donnerstag, 14. November 2019

Persien / Iran

In einem meiner erstes Posts zeige ich, dass ʿUṯmān Ṭāhā weniger kalli­gra­phisch schreibt als der 1924er ägyp­tische Regierungs­druck: er bleibt auf der Grund­linie, hat kein Knuddel­mīm, so dass IMMER von rechts nach links zu lesen ist: So stehen die Vokal­zeichen nicht nur in der rich­ti­gen Reihen­folge ‒ was sie auch im osmani­schen Stil müssen ‒, sie stehen auch immer nahe bei dem Buch­staben, den sie "bewegen".
Alles in Allem ist ʿUṯmān Ṭahā nah am Setzkasten der Amiriya = vereinfachter osmanischer Duktus.
In "Kein Standard" konzentriere ich mich auf die Recht­schrei­bung, besonders auf die afrika­nische (maghebi­nisch-arabi­sche) sowie die indo-pakistanische
und folg­lich auch auf arabische, osmanische und indische Schreibung. Aus dem Iran zeige ich fast nur Nastaʿliq.
Deshalb hier der in maṣāḥif üblische persische Schreib­stil, alle Beispiele aus Reprints persi­scher Hand­schriften.

auch wenn von drei verschiedenen (berühmten) Kalli­graphen, schreiben sie ziemlich ähnlich.
Unten rechts wie oft in Persien und Indien steht wa allein, ge­trennt von dem Wort, mit dem es zusammengeschrieben gehört.
Hier noch zwei Beispiele von "wa-" am Zeilenende; das erste finde ich be­son­ders schlimm, weil das alif-waṣl von seinem Vokal /a/ getrennt steht.

In "Kein Standard" zeige ich Bilder aus vier ver­schiede­nen ʿUṯmān-Ṭāhā-Ausgaben aus Tehran (eine mit 12 Zeilen Inter­linear-Über­set­zung pro Seite, einer mit ʿUṯmān-Ṭāhā-Font gesetzt). Hier eine mit 11 Zeilen; alle Wörter original, alle Zeilen neu (das Origi­nal hat 15 schmäle­re Zeilen je Seite). Leider wieder der "wa-"Fehler:


Diese Interlinear-Ausgabe ist "persischer" im Schreib­stil und bei den Zusatz­zeichen. Aber wie bei UT 604 Seiten:

Mittwoch, 13. November 2019

Rechtschreibung

Viele denken, dass es EINE Art gebe,
den Qurʾān zu schreiben ‒ wenn man die verschiedenen Lesarten unberück­sichtigt lasse.
Viele vermuten, dass die Hand­schriften und Drucke optimal seien.
Das Gegenteil ist richtig:
es gibt keinen fehlerlosen Druck:
bei den Arabern sind viele Stellen, an denen ein Langvokal kurz gesprochen, nicht markiert;
ferner fehlen bei den Arabern Ägyptens und des Ostens Angaben zur Voka­lisierung von alif-waṣl FALLS mit ihnen eingesetzt wird.

Bei Türken, Persern, Indern, Indonesiern fehlen Angaben zu ver­schiedenen Reali­sierung von tanwīn {was nicht schlimm ist}, sowie zu Feinheiten der Assimilierung.

Zur Schreibung der Langvokale
gibt es ein alten indisches System, was zur Zeit niemand benutzt.
Es stützt sich auf sieben Vokalzeichen (a ā i ī u ū x) und
ignoriert ‒ außer bei Diphtongen ‒ die Vokalbuchstaben.

Daneben ‒ ich bin geneigt "dagegen" zu sagen ‒ gibt es ein afrika­nisches System, das immer zweier­lei braucht:
ein Vokalzeichen UND einen Vokalbuchstaben;
hier wird ein kleiner Vokalbuchstaben ergänzt, wenn im rasm keiner steht
‒ auch wenn "nur" die Regeln der Prosodie oder der Reim die Längung erfordern.

Erfordert die Prosodie die Kürzung, bleibt das unberück­sichtigt.
Erfordert der Reim die Kürzung, wird es notiert.
In türkischen Ausgaben wird die Längung zu /ī/ notiert,
die zu /ū/ NICHT.
Indonesier, die osmanische Kopien nachdrucken, korrigieren dies.

Hier ein paar Wörter aus einem indischen Manu­skript von etwa 1800 (Sura Hūd)
und die moderne indische Schreibung, in der das KURZvokal­zeichen steht ‒ wie in Afrika ‒,
FALLS der richtige Vokal­buchstabe folgt.
Folgt der falsche oder gar keiner, steht ‒ wie früher ‒ der LANGvokal­buchstabe.
Beim Diphtong (al-farīqaini in der letzten Zeile) bekommt der Vokal­buchstabe ǧazm,
damit man weiß, das er nicht stumm ist.

In 7:103 und 3:144+21:34 sind trotz Schreib­unterschiede Laute und rasm gleich:
wa-malaʾihī
IPak: وَمَلَا۠ئِهٖ
Q52: وَمَلَإِي۠هِۦ
Im rasm steht je eine mater für /a/ und /i/ ‒ ja wirklich für KURZE VOKALE,
weil die allerersten Schreiber keine andere Möglich­keit hatten, das zu notieren.
in Indien ist das alif stumm (längt das fatḥa nicht), das yāʾ trägt das Hamza,
in Arabien trägt das alif das Hamza, das yāʾ ist stumm.

In 3:144 + 21:34 ʾa-faʾin
IPak: افَا۠ئِنْ
Q52: اَفإي۠ن
Inder und Türken machen das alif stumm
(früher setzten die Inder NICHTS auf das alif, heute den Stumm-Kreis,
die Türken das Wort qaṣr darunter)
die Araber sehen das alif als Hamza-Träger, das yāʾ als stumm.
Muṣṭafā Naẓīf lässt den stummen Buch­staben in seinem (in Deutsch­land und Indo­nesia nach­ge­drucktem) 604er berkenar muṣḥaf in 21:34 weg: اَفَإنْ
Sonst hat er ‒ wie üblich ‒ alif und yā, aber in dem 604er fehlt das yāʾ und die meisten Heraus­geber der Re­prints stört(e) das nicht.

Hier zwei Seiten mit der gleichen Stelle aus Sura Ḥūḍ, damit Sie sehen, dass das keine Idiosynkrasie des Schreibers war, sondern ein durchdachtes System:

trau keinem Reprint ...

... es sei denn du hast ihn selbst "verbessert"!
Ḥāfiẓ ʿUṯmān (1642-98)'s muṣḥaf auf 815 Seiten (ohne das Abschluss­gebet, den Index und das Kolo­phon) ist sehr oft und sehr lange in Syrien (in Ägypten meist mit tafsīr) nach­gedruckt worden; einen aus mehreren zusammengeschusterten 604seitigen von Haǧǧ Ḥāfiẓ ʿUṯmān Ḫalīfa Qayiš­Zāde an-Nūrī al-Bur­durī (Hac Hattat Kayış­zade Hafis Osman Nuri Efendi Burdur­lu gestorben 11. März 1894 (4 Ramaḍān 1311) findet man oft in der Türkei.


Links ein Damaszener Druck vor 1950 mit vielen Zeichen, die später getilgt wurden:
kleines hā' und yā' für Fünf und Zehn (15,20, 25,30 ...)
zwei Kleinbuchstaben (immer eines davon bā') über baṣrische Vers­zählung
kleine punktlose Buchstaben unter oder über einem punkt­losen Buch­staben, um zu betonen, dass da kein Punkt fehlt (oder auch لا, was wie ein V oder Vogel­Flügel aussieht -- in manchen Manu­skripten bekommen dāl und rāʾ einen Punkt darunter, um zu sagen nicht-zāʾ, nicht-ḏāl).

In der Mittel (auf blassgrünem Grund) habe ich zwei Stellen hervorgehoben:
bei der ersten haben die modernen türkischen Bearbeiter (siehe rechts /gelblich) die zwei Wörter von anderen Stellen im muṣḥaf hier­hin­kopiert, damit es klar und deut­lich von Rechts nach links geht, damit jedes Vokal­zeichen "richtig" platziert ist.
bei der zweiten Stelle haben sich die Herausgeber an dem 815er muṣḥaf bedient, um den rasm zu "korri­gieren":

Donnerstag, 10. Oktober 2019

der rasm ‒ deutsch

Vom Wortsinn her ist es: Strich, Zug, Riss
Was gar nicht geht, ist: Konsonantengerüst.
Kon-Sonanten, Mit-Klinger bezeichnet zuerst Laute ‒ dann Zei­chen für diese.
Ist von Text, Strich, Zug, Gerüst die Rede können nur Zei­chen ge­meint sein.
Diese sind aber gar keine Mit-Klinger, sondern Buch­staben.
Mit-Klinger gibt es logisch nur, wenn es Klinger gibt.
Nur wo es Vokal-Zeichen gibt, kann es Konsonant-Zeichen geben.
(Da Griechen kein ḥ sprachen, haben sie den Buch­staben ḥēt zum ē gemacht = die Er­findung des Vokals.
aus Jud wurde ī, aus ʿain Omikron, aus waw Ypsilon (ū).)
Die Buchstaben im Qurʾān ‒ in den frühen Manu­skrip­ten und den Texten, die sich auf ad-Dānī & Co. berufen, ‒ sind Buch­staben, nicht Kon-Sonanten.
Wenn überhaupt, sind es Kon-Sonanten, UND Wort­ende­Markierer UND Sonan­ten ‒ Lang­vokale und Kurz­vokale (des­halb sind für heutige Araber einige Buch­staben überflüssig).
Dass hunderte Buch­staben (ḥurūf al-madd wa'l-līn) Lang­vokal bzw. Diph­thong anzeigen, dürfte all­gemein bewusst sein, aber auch Kurz­vokale werden durch Buch­staben ‒ die eben KEINE reinen KON­sonanten sind ‒ markiert: sehr oft اولٮك aber auch seltene Wörter wie وملاٮه (7:103) الأعراف١٠٣ bei dem man heute zwei stumme Buch­staben sieht: einen hamza-Träger und einen über­flüs­si­gen; ursprüng­lich standen die für (Kurz-)Vokale (a i, aʾi, ayi).
Genau so ist es bei اڡاىں (3;144 + 21:34) IPak: افَا۠ئِنْ Q52: اَفإي۠ن
Auch in dem häufigen اولٮك stand das wau für /u/;
heute ist es stumm, da das ḍamma auf dem Alif fur /u/ steht.
Ebenso in ساورىكم
(7:145, 21:37), لاوصلٮٮكم
(7:124, 20:71, 26:49)
Schön auch das 22. Wort in 3:195 واودوا
sechs Buchstaben,
gewiss keine sechs Konsonanten.

Es ist logisch unmöglich, dass es nur Kon-Sonanten sind.
Auch phonetisch schwierig: Nichts kann MIT-schwingen, wenn es keine Schwinger gibt.
Also bleibt man wohl beim graphischen Ursinn: Strich, Zug, Riss.

Sonntag, 15. September 2019

Begegnen Neuwirth (= Angelika Kleinknecht)

Die „Standardausgabe“ von 1924/5 hat keinen Titel. Bayerische und Preus­sische Staats­biblothek sowie die FU Berlin setzen sie als „[al-Qurʾān]“ an. „Amticher ägyptische Q.“ und „König-Fuʾad-Aus­gabe“ sind übliche Be­zeich­nungen. Kairi­ner Buch­händler nannten sie „der 12-Zeilige مصحف ١٢ سطر“. (Die Šamarli-Aus­gabe hieß „der 15-Zeilige“, woran man deren Bedeu­tung erkennen kann – die Aus­gaben von Muṣṭafā Naẓif und von ʿUṯmān Ṭāhā sowie der Azhar-Muṣḥaf (1969-79) haben auch 15 Zeilen je Seite.) Im Inter­net findet man sie meist als مصحف المساحة auch als مصحف المساحة والاميریة oder Egyptian Survey (Authority) Qurʾān also als "Grund­buch­amt­quran". Auch "Koran der Amīriyya" ist ein ge­läufiger Name.

Da Begegnen Neuwirth schon Professorin ist, braucht sie sich nicht an die Regeln wissen­schaft­licher Titel­anset­zung zu halten, die ver­langen näm­lich eckige Klam­mern um ange­nom­menen, er­schlos­sene, selbst kre­ierte Titel, Titel also, die man weder auf dem Buch­um­schlag, noch auf einer Titel­seite finden kann. Wissen­schaft­lich han­delt es sich um „[al-Qurʾān]“. Neu­wirth aber nennt ihn mal „Al-Qur‘ân al-Karîm, Kairo 1925“ (Der Koran als Text der Spät­antike, Berlin: Suhr­kamp 2010. p. 30, auch p.261) mal „Qur‘ân karîm 1344/1925“ (ebd. p. 273). Neu­wirths Erschei­nungs­jahr könnte stimmen, ob­wohl biblio­graphisch maßgebend ist, was das Buch selbst von sich behauptet: 1924. Es steht aber IM Buch SELBST, dass sein Druck "am 7. Ḏul­ḥigga 1342 (= 10.7.1924) ab­ge­schlos­sen" worden sein.
Wie kann im Buch vom Ab­schluss des Druckes so genau berichtet werden? Es kann nur der Druck des qurʾānichen Textes gemeint sein. Die Nach­richt darüber kann aber erst danach gesetzt worden sein, der ganze Anhang erst danach gedruckt. Druck des gesamten Werkes und erst recht die Bindung kann eigent­lich erst 1925 abge­schlossen worden sein ‒ was auch die Blind­prägung in Bergsträßers Band nahe­legt.

Besonders schön ist folgende Fest­stellung der Pro­fessorin:
der „ver­schrift­lichte[] Koran­kodex, muṣḥaf, [wurde] durch … Über­liefe­rung durch die Jahr­hunderte weiter­tra­diert …, um schließ­lich im letzten Jahr­hundert, im Jahre 1925, in die Form eines ge­druck­ten Textes ein­zu­gehen." Der Koran als Text der Spät­antike, Berlin: Suhr­kamp 2010. p. 190
In der von ihr auto­risier­ten ameri­kanischen Aus­gabe (Ange­lika Neu­wirth, The Qur’an and Late Antiquity, New York: Oxford UP 2019. p. 110) heißt es: "the written Qur’an codex, muṣḥaf, … was handed down through the cen­turies by tra­dition … until finally, it merged in the year 1925, into the form of a printed text."
"in order to be finally, in the last century, exactely in 1925, to be trans­formed into a printed text" wäre näher am Ori­ginal.
Dies lesend dachte ich, Neuwirth sei komplett ver­rückt geworden. Jeder Student der Geschichte des Korans hat Victor Chau­vin gelesen oder min­destens Hart­mut Bob­zin (oder Schulze oder Puin).
Wo sie studierte, in München, gibt es über zwanzig Koran­drucke aus der Zeit vor 1924.
Als sie ihr Opus Magnum schrieb, gab es schon Inter­net, worin man hun­derte Drucke, die Biblio­theken in London, Berlin, Oxford, Amster­dam bereithalten, finden kann.
Seit 1830 gab es viele Drucke in muslimi­schen Ländern, seit 1870 sehr viele ‒ und von hoher Qualität.
Ich hielt Begegnen Neuwirth für völlig gaga, bis ich eine Fuß­note von Gabriel Said Reynolds las. In der "Intro­duction" zu The Qur'ān in its His­to­ri­cal Context, Abing­don: Rout­ledge 2008 schreibt er
the standard Egyptian edition of the Qur’an, first pub­lished on July 10, 1924 (Dhu l-Hijja 7, 1342) in Cairo, … was the not the first printed edition of the Qur’an, which was instead that com­mis­sion­ed by Muhammad ‘Ali in Egypt in 1833
Dass Gizeh 1925 ‒ fälsch­lich auch "Kairo 1925" ‒ nicht die erste ge­druckte Ausgabe ist, schien mir, bis ich diese Fuß­note las, für so selbst­verständ­lich wie, dass es manchmal in London regnet und im Winter in Moskau schneit: nicht er­wähnens­wert! Doch Reynolds wusste es nicht, bis er den Artikel "Printing" in der Ency­clo­pe­dia of the Quran gelesen hatte, dem er ent­nahm, dass der erste Druck eines ägyp­tischen muṣḥaf 1833 erfolgt sei ‒ was aber aber Unsinn ist; es gab allen­falls den Druck eines kleinen Aus­zugs!
Ferner: Während die Laut­gestalt wohl durch die Jahr­hunderte von Leh­rer zu Schüler weiter­gereicht wurde, geschah das – zu­mindest in Ägypten – nicht mit dem Kodex. Die KFA basiert weder auf den ältesten Manu­skrip­ten, noch auf den jüngsten; sie basiert laut Berg­sträßer auf dem aus­wendig gewuss­ten Text und Werken von anda­lusi­schen Ge­lehrten. Oder schlicht auf marok­ka­ni­schen Aus­gaben ohne die Warš-Be­son­der­heiten.
begegnen
Warum muss ich kotzen, wenn ich Texte von Begegnen Neu­wirth lese?
Das Wort, wie sie es gebraucht, ist Jargon so wie das waid­männische "Losung".
In der Orientalistik ist es jüngsten Datums.
Bergsträßer verwendet das Wort überhaupt nicht.
Vollers verwendet es korrekt, "Die syn­tak­tischen Unterschiede, die uns ... begegnen," "die Form, die uns im Qorân fünfmal begegnet".
1977 kannte das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache das neuwirthsche "begegnen" noch nicht. Dass es neben dem ursprüng­lichen reziproken
einander begegnen
mit jemandem zufällig zusammen­treffen; jemanden zufällig treffen
schon das transitive
jemandem, etwas begegnen
etwas antreffen, auf etwas stoßen
und die instransitiven
widerfahren (so etwas ist mir noch nie begegnet)
sowie
auf etwas in bestimmter Weise reagieren (einer Gefahr mutig begegnen)
gibt,
reicht völlig.
Es muss nicht auch noch das neuwirthsche absolute Verb geben.
Kein Wort muss alles bedeuten.
Kein Wort sollte mit einer zusätzlichen Bedeutung ver­sehen werden,
wenn man das schon auf zig andere Weisen sagen kann.

Nur um sich vom gemeinen Volk abzu­setzen,
hat Begegnen Neuwirth aus dem korrek­ten Gebrauch
parfumierte Scheiße gemacht.
Warum sage ich das?
Weil es nur dazu dient, Duftmarken zu setzen.
Die meisten ihrer Sudent*innen machen es ihr nach!
Wenn es nur eine Verrückte wäre, die sich inter­es­sant macht,
hielte ich meinen Mund.
Weil es aber Kohorten von Lemmingen gibt,
melde ich mich zu Wort.
Es gibt einen korrekten Gebrauch, den Dummköpfe "verfeinert" haben:
Zum andern begegnen wir einem Neutrum altenglisch brēost, altsächsisch briost und altfriesisch briast.
Stefan Speck in Quora
So ist es richtig. Bei Neuwirth ist es Sch..ße.

Nach meinem Sprachempfinden ist Alles was A. Bege­gnen Neu­wirth schreibt,
Losung.
Etwa "Die Sure ist Einheit." (zig mal).
Deutsch ist das nicht.
Die Sure ist eine Einheit
und
Die Sure ist einheitlich.
sind deutsch.
A. Begegnen Neuwirths Satz ist schlicht falsch.
Was sie sagen will:
Keine Einschübe.
Spätere Einschübe gibt es nicht.
Die Sure ist aus einem Guss.
oder ‒ ganz unbegegnenneu­wirthisch formu­liert ‒:
Einschübe habe ich keine festgestellt.
Einschübe sind mir nicht aufgefallen.


Und noch Mal:
Wenn man im Internet einen chrono­logischen Koran publiziert, über­setzt und kom­mentiert,
muss man eine Sure so oft ab­drucken, wie sie gekürzt oder er­weitert wird,
nicht nur einmal (das erste Mal),
und dort erwähnen, was später alles dazu­kam.
Wenn man ‒ wie Begegnen Neu­wirth ‒ davon ausgeht,
dass der Koran nicht aus Versen besteht,
sondern aus Suren,
dann ist eine veränderte Sure,
neu in der Chrono­logie zu platzieren.
Nur so bekommen die Leser einen Eindruck von dem neuen Stadium,
dem neuen Umfeld von frisch geoffenbarten (frisch ver­kündeten/ neu be­arbei­te­ten) Suren.

muṣḥaf Rušdī-Wāʿiẓ

In einem früheren Post habe ich dar­gelegt, dass es von dem in Baġdād aufbe­wahrten muṣḥaf Muhammad ʾAmīn ar-Rušdīs im ʿIraq, in Saʿudia und in Qaṭar zwischen 1370/1951 und 1401/1981 Nachdrucke gab.
Bis auf die Nach­worte/Kolo­phone und die ḥizb-Einteilung sind sie alle gleich. Sie geben die Bearbei­tung nach al-Wāʿiẓ wieder.
Erst jetzt habe ich erfahren, dass es 1415/1994 einen weiteren Nach­druck gab: Er beruht leider nicht auf dem Original, sondern auf dem ʿirāqi­schen Druck:
— alle Zusatz­bemer­kungen wurden getilgt — die ihmal-Zeichen wurden schon 1370/1951 getilgt,
— die hohen yāʾ barī bei jedem zehnten Vers wurden getilgt,
— ALLE Alifs-Waṣl haben jetzt ein Waṣl-Zeichen — nicht nur die vor ḥarf sākin
— Pausenzeichen und Vokalzeichen wurden genauer/richtiger platziert,
— manchmal wurde der Wortabstand vergrößert, langgezogenes-nūn gekürzt
ḍamma-Zeichen wurden durch gedrehtes ḍamma ersetzt, wo die Prosodie ū verlangt,
— Mūsā bekam ein Lang-fatḥa,



Wer hat Bilder vom Original?

Mittwoch, 11. September 2019

Ambig Bauer

Thomas Ambig Bauer ist derzeit der beim Feuilleton beliebteste Arabist.
Weil er schreibt, was gängig ist. Weil er aus­reichend ver­einfacht.

Ich finde, er schreibt Unsinn.
Der Begriff »Ambiguität« ist im Deutschen weniger gebräuch­lich als sein englisches oder französi­sches Äquivalent, denn ambiguity und ambiguité sind Wörter der Alltags­sprache. Das Wort ist aber auch im Deutschen unver­zicht­bar
Im Deutchen kann man auf das Wort bestens verzichten, ja man sollte es so gut wie nie gebrauchen, und schon gar nicht so wie Bauer, nämlich falsch.
Es kommt von ambo (zwei) und iggere (treiben)
Ambig Bauer benutzt es aber meist im Sinne von vieldeutig
wo es doch zwei-triebig heißt.
Man braucht es im Deutschen überhaupt nicht,
wir können schließ­lich genauer sagen, was mir meinen:
zwei-deutig, un-eindeutig
zwei-gestaltig,
Zwei-Naturen, Zwi-licht, Nach-Sicht
doppel-bödig,
Zwi-tracht, zwiträchtig
mehr-deutig, viel-deutig,
Einspruch, Wider­spruch, widersprüchlich,
unabgeschlossen, unentschieden, unent­scheidbar, unüber­sicht­lich
Mit Widersprüchen leben, sie aushalten,
nicht leugnen von Widersprüchen, sie nicht zukleistern.
Vielfalt, Pluralismus, Dia­lektik, dialek­tisch,
Gegen-satz, gegen­sätzlich, plural,
Heterogenität,
janusköpfig,
Offenheit, offen lassen,
unscharf, ungenau, vage, unklar, "irgend", "so in der Art", "oder so",
mit Toleranz, mit Spiel, mit Band­breite, ungefähr, dehn­bar, flexi­bel
Manchmal trifft es auch "5 gerade sein lassen",
es nicht zu genau wissen wollen, es im Dunkeln belas­sen,
"sowohl als auch", "jein" oder gleich­zeitig.
Mal hilft es, Differenzen auszu­klammern, eine Sache auf sich beruhen zu lassen,
Ungehöriges nicht zu "sehen", d.h. sie nichts aufs Tapet zu bringen.
Ambig Bauer will all dies mit éinem Wort verkleistern,
ich ziehe die Treff-Genauig­keit verschie­dener Worte vor.
Ich verstehe schlicht nicht, wie ein des Deutschen Mäch­tiger
sagen, kann "ambig" (gesprochen ammbick) sei unver­zicht­bar.
Wenn ich nicht spinne, spinnt Ambig Bauer.
Wenn man den Begriff Ambiguität ... erwei­tert,
muß man auch den Begriff der Bedeu­tung weiter fassen
„Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert, muß man auch den Begriff der Bedeutung weiter fassen“ (26). Muss man? Ambiguitas bedeutet: von‐zwei‐Seiten‐Treiben, Vag­heit, Zögern, Zweifeln. Aber all das meint Bauer gar nicht; er meint Viel­deutig­keit und nur wenn „Ambiguität“ gar nicht seine lateinische Bedeutung hat, sondern nur ein hoch­trabende Ver­kleidung von „Vieldeutigkeit“ ist, muss man Bedeu­tung weiter fassen. Muss man denn Latein schreiben, wenn man Deutsch denkt?
Unnötig auch einen „coitus pro natura“ zu erfinden, die Scholasti­ker meiner rö­misch‐katho­lischen Kirche kennen nur einen „coitus natura­liter“, aber Bauer ent­stammt bestimmt einer alter­na­tiven römi­schen Kirche.
Ich verstehe auch seine Schwierig­keiten, den grünen Stecker in das grüne Loch und den roten in das rote zu stecken, nicht – seine Aus­füh­rungen über drei Gebrauchs­anweisun­gen, zwei Löcher und einem Stecker (54‐6) sind in meinen Ohren breit getretener Quark – viel­leicht sind sie ja für andere erhellend.
Ginge es ihm nicht um Hoch­gelehrsam­keit sondern um Ein­sichten, dann kämen wir mit Offenheit, Vielfalt, Sowohl‐Als‐Auch, Plura­lismus, Hetero­genität, mit‐Wider­sprüchen‐Leben, Unabge­schlossen­heit, Mehr­deutig­keit, „kommt drauf an“, „5 gerade sein Lassen“, Streit‐Aushalten weiter als mit „Ambiguität“. Aber dann gelänge es ihm weniger gut, dem Leser bis kurz vor Schluss weis­zu­machen, dass Islam gut und Westen schlecht sei. Als Skeptiker habe ich mich gleich gefragt, ob das denn wirklich so sei, dass der moderne Westen „klar und ein­deutig“ sei und deshalb Bonaparte die Mamelucken besiegt habe. Ich denke die vielen, relativ preis­werten, schnell nachzu­ladenen Schuss­waffen spielten dabei eine gewisse Rolle und dass Stan­dar­di­sie­rung Massen­fer­tigung erleichtert. Dass die Muslime Dinar und Dir­ham standar­disiert haben, hat den Han­del erleichtert. Aber schon der tech­nische Fort­schritt des Westens war weniger Folge von „klar und eindeutig“ wie Bauer meint, als von „trial and error“, Vor­läufig­keit, Nicht­abge­schlossen­heit; Besser‐Machen (ohne auf das einzige wahre Optimum zu warten) brachte den Westen nach vorn, nicht „Orna­ment ist Ver­brechen“, wie Bauer Adolf Loos falsch zitiert <dessen Manifest heißt Orna­ment UND Ver­brechen>, sonst hätte es unter Wilhelm II keinen Fort­schritt bei der Stahl­pro­duktion gegeben, sondern erst in den 1920er Jahren.
Was Bauer hier schreibt entspringt nicht eigenem Studium oder eigenem Denken, sondern stammt von Herren, die vor allem Frank­reich studiert haben. Hass auf Anders­denkende (Bartholomäus­nacht und Henri IVs Er­mordung) sind aber nicht Bedingung für Meter, Gramm, Liter und Null­meridian. Nicht Louis' Ver­trei­bung der Hugenotten (Edikt von Nantes) sondern Colberts Schiffs­kanäle und die Ab­schaffung der Binnen­zölle steigerten Frankreichs Brutto­sozial­pro­dukt. In Deutsch­land brachten Zollunion, Mittellandkanal, Reichs­mark, und MEZ Produktions­zuwachs auch ohne kon­fessio­nelle Homo­geni­sierung und Zentra­li­sation. Nicht die „Preu­ßi­sche Union“ von Luthe­ranern und Cal­vinisten machte Preußen reich und „modern“ sondern die katho­li­schen Kohle an Ruhr, Saar und in Schlesien. Bauer muss ja nicht histo­rischer Materia­list werden, aber sein Über­bau­gedusel ist schon sehr idea­listisch.
Wenn er schreibt, dass die „Ökonomie besonders ambi­guitäts­intolerant“ (58) sei, dann hat er sich nichts dabei gedacht. Nach meinem Ver­ständnis ist es genau umge­kehrt: der Markt lebt davon, dass Samsung und Apple, Win­dows und MacOS, BMW und Daimler neben­einander existie­ren und nicht einer einzig recht hat. Nimmt man den Wett­bewerb von FAZ und Süd­deutscher, von Grünen und Piraten dazu, sieht man, dass „der Westen“ doch nicht so rigide und un­flexibel ist, wie Bauer ihn dar­stellt. Erst kurz vor Schluss räumt er ein, dass „poly­phone Musik, ... Opern ... und Demo­kratie“ Leistungen des Westens seien, die nicht „klar und ein­deutig“ seien; doch seien Erstere marginal und die Demo­kratie „von Heka­tomben von Opfern gesäumt“ (403). Ich vermute, dass sich auf diesen Seiten Dis­kussionen mit Menschen nieder­geschlagen haben, die mehr vom Westen verstehen als Bauer, dass er mit diesem Eingeständnis aber schon die Grenze seiner Einsicht in Positives am Westen erreicht hat. Meiner Ansicht nach wäre das Buch viel besser, wenn es mehr hätte von Dingen, die Bauer gut kennt, und weniger über den Westen.
Bauer schreibt immer wieder von den vier Rechts­schulen, obwohl er andere als die vier erwähnt, u.a die von Abu Thaur (171); dabei passiert ihm ein Fehler: er spricht von „dem Ẓāhiriten Abu Dāwūd“ (170). Erstens heißt der Mann D., nicht Abū D., zweitens ist das der Gründer der Schule, die deshalb auch Dāwūdīya heißt. Bei zehn neben­einander existierenden Schulen von Zwei­deutig­keit zu sprechen, scheint mir so schief wie bei 28 Koran­lesarten. Bauer meint mit „ambi“ gar nicht „ambi“ sondern „pluri“ oder „poly“; warum sagt er nicht, was er meint?


Qirāʾāt
Gleichzeitig spricht man auch bei einer einzelnen Text­stelle, die in verschie­denen Versionen unter­schiedlich lautet, von einer qirāʾa.
Bauer: Kultur der Abiguität. S. 62
Das stimmt nicht: nicht die Text‐stelle nennt man qirāʾa, sondern ihre Varian­ten nennt man qirāʾāt. Für einen Deutschen ist die Sache eigent­lich ganz einfach: sowohl eine fest­gelegte Lesung des ganzen Koran nennt man „Lesart“, wie die einer Stelle. Nur weil im Engli­schen bei der Stelle von „variant“ und beim ganzen Koran von „reading“ geredet wird, kommt Bauer durch­einander. Der Voll­ständigkeit halber: qirāʾa hat nóch eine Bedeutung: Lesung/ Re­zita­tion/ Ver­klang­lichung, also die Aktua­lisie­rung des Textes (performance).
das Bewusstsein von der Plurali­tät der qirā´āt hat durch die Ein­führung des Buch­drucks einen schweren Schlag erlitten. Im Jahre 1344/1925 wurde in Kairo der Koran in der Lesung »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim« gedruckt. Diese Ausgabe hat sich rasch in der gesamten isla­mischen Welt durch­gesetzt.“ (95)
„Der historische Zufall, daß sich die »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim«‐Lesung im Gefolge des Osma­ni­schen Reiches weit­hin aus­ge­brei­tet hat und schließl­ich dank des Buch­drucks in der Praxis eine Mono­pol­stellung er­langte, ... (108)
Nichts davon ist richtig:
Der Buchdruck hat das Bewußtsein der Lesungen gestärkt.
Die Ausgabe von 1342/1924 (!) hat sich nie und nimmer "in der ge­samten islami­schen Welt durch­gesetzt":
1.) Selbst in Ägypten, wo sich die neue Ortho­graphie dank staat­lichen Drucks durch­setzte, war die Aus­gabe der Amīriyya immer eine Seltenheit. Vor zehn Jahren lagen davon noch unver­käuf­liche Exemplare in den Buch­läden. Aus­gaben auf 522 Seiten ver­kauften sich besser: erst die von Muṣṭafā Naẓīf Qadir­ġalī, nach 1975 die von Muḥammd Saʿd Ibrāhīm al-Ḥaddād geschriebene, nach 1976 auch der ganz schlicht gesetzte Muṣḥaf al-Azhār aš-Šarīf, heute wieder al-Ḥad­dād/Šamar­lī sowie ʿUṭmān Ṭāhā auf 604 Seiten.
Zweitens hat sich erst die Ortho­graphie der Aus­gabe von 1952 außer­halb Ägyptens durch­gesezt,
in der Fassung von ʿUṭmān Ṭāhā ‒ also ab 1977 ‒ ganz all­mählich,
Drittens nur in Ostarabien, weder in Persien, noch in Marokko, weder in der Türkei (oder bei den Türken in Deutsch­land), noch bei der größten Gruppe der Muslime, den Indern, Pakis­tani, Ben­galen und Indo­nesiern.

Es ist auch kein historischer Zufall, dass das osmanische Reich und das Moghul­reich die ḥanafiti­sche/kufi­sche Rechts­schule annahmen, weil diese Reiche (für das osmanische zumindest über lange Zeit) nur eine Minder­heit von sunni­tischen Ein­wohnern hatten und des­halb die Rechts­schule wählen mussten, die die Anders­gläubi­gen am wenigsten dis­krimi­niert. Und so wie die Māli­ki­ten letzt­lich eine Lesung aus Medina bevor­zugen, so die Ḥana­fiten eine aus Kufa. Ob das ent­scheidend war oder die Tatsache, dass ʿĀṣims Lesung näher an der Standard­aus­sprache des Arabi­schen ist als andere Lesungen, dass man also auf weniger Wider­sprüche zwischen den Grammatik‐Büchern und den Koran‐Vor­trags­büchern stößt, und des­halb gerade Türken, Moghulen, Perser, Inder und Indone­sier sich für die leich­teste Lesung ent­schieden, kann offen bleiben.
Nebenbei: Bevor die „Marokkaner“ die Lesung nach Warsch von den „Tune­siern“ über­nahmen, hatten sie nach Hamzah aus Kufa gelesen. Auch diese inner‐maghre­bi­ni­sche Verein­heit­lichung hat nichts mit dem Buch­druck zu tun.
Es ist aber nicht bloßer Zufall und der Buch­druck tat wenig zum Zurück­drängen der anderen Les­arten. Bauer müsste nach­weisen, dass vor 1830 (dem Beginn des Drucks von Koranen in der islami­schen Welt) der ʿĀṣim‐Anteil geringer war als danach, und nach 1925 nochmal größer als davor.
Was man leicht zeigen kann, ist, dass CD, DVD, Internet, Apps und Buch­druck in den letzten 30 Jahren mehr zur Ver­brei­tung von anderen Les­arten als Ḥafṣ nach ʿĀṣim getan haben als alle Reli­gions­schulen in den 1000 Jahren davor.

Die Kultur der Ambiguität, das Buch ...

... ist ein Märchenbuch, voller Lügen, schwarz-weiß statt "ja-aber"-grau.
Obwohl es laut Unter­titel "Eine andere Geschichte des Islams" ist, geht es in ihm gar nicht um den Islam, sondern nur um zwei Varianten, zwei von hundert:
— um den städtischen, sunni­tischen Gelehrten­islam Ost­arabiens (Ägyptens, Syriens, des Irāqs), nicht des frühen, sich erst bilden­den Islam, sondern um den "postformativen", "vor­kolonialen",
— den "post­kolonialen", die Antwort auf das Vordringen Europas, also insbesondere den Wahhabismus.
Doch die meisten Deutschen wissen so wenig über Islam, dass sie daraus viel lernen können:
1) Der Nahe Osten war weder rein islamisch, noch durch und durch religiös. Die Herrscher waren nicht Befehls­empfänger reli­giöser Würden­träger; Kunst und Wissen­schaft waren keine Anhäng­sel der Religion.
2) Der mittelalterliche Islam war nicht dogmatisch, unduld­sam und prüde.
Er hat weder ethnische Säube­rungen orga­ni­siert noch religiöse Minder­heiten ver­nichtet.
— Islamismus ist keine Rück­kehr zum tra­ditio­nellen Islam, son­dern ein Versuch, den Westen mit des­sen Methoden zu schlagen.
In Kapiteln über Koran, Hadith und Recht zeigt Bauer, dass Gottes Buch, das Bei­spiel des Ge­sandten und Gottes Regeln zwar ab­solute Geltung bean­spru­chen, aber nie­mand wissen kann, was Gott gemeint hat und welche "Ge­sandten­sprü­che" wirk­lich von ihm stammen, deshalb die Schariʿa gar nicht ange­wendet werden kann.

Kernthese über den westlichen Menschen
Ambig Bauers Kernthese: «Eine beträcht­liche Angst vor ihrem eigenen Körper begleitet die Menschen des Westens seit Jahr­hun­derten. ... [Die daraus resul­tieren­den] am­bi­valenten Gefühle [können] zu starker Ambiguitäts­intoleranz führen.» Durch Imita­tion des Westens sinke seit 200 Jah­ren im Nahen Osten die Toleranz gegen­über Mehr­deutigkeit. ‒ Während also im Westen der Leib den Unter­bau für Kultur und Menta­li­tät bilde, gestalte im Nahen Osten west­liche Dis­kurs­hege­monie diese um.
Thomas Ambig Bauer ist Philologe; wenn er ara­bische Texte referiert, ist er gut, wenn es um Gesell­schaft und Wirt­schaft geht, ist er schlecht. Er schreibt: Juden und Christen fand man in allen Dörfern, ihnen standen außer dem Militär alle Berufe offen. Erste­res stimmt nicht und Letzte­res ist nicht nur Berufs­verbot, sondern elemen­tare Ent­rechtung: Juden und Christen durften keine Waffen tragen, waren wie Frauen und Kinder schutz­bedürftig. Ich glaube auch nicht, dass sie Qadi oder Muezzin werden konnten. De facto waren sie auf wenige Berufe beschränkt, etwa Seifen­sie­der, Silber­schmiede, Musiker, Hausierer, Photo­graphen, Steuer­eintreiber. Von eth­ni­scher Arbeits­teilung hat Bauer nie ge­hört. Immerhin kommt «Arbeits­teilung» vor, doch damit meint er nicht Spezia­lisie­rung in Hand­werk, Handel, Landwirt­schaft, sondern «Arbeits­teilung» zwi­schen Juristen, Sufis, Theo­logen, Hadith­experten.
Er schaut durch die rosa­rote Brille wenn er von Ent­deckungs­reisen in Afrika schwärmt, aber die Sklaven­jagden nicht erwähnt. Statt dessen: «Die soziale Mobi­lität war geradezu schranken­los ... Im Na­hen Osten konnte man tatsäch­lich vom Sklaven zum Fürsten werden.»
Es war aber nicht so, dass erst ein Bäcker Herrscher war, sein Nach­folger ein Dichter, darauf ein Sklave folgte, der von einem Stammes­krieger abgelöst wurde. Meist herrsch­ten Geschlechter. Auch die 500-jährige Militär­diktatur, die Ägypten regierte, heißt in den arabischen Quellen «Dynastie/daula»; in der Zeit waren alle Herrscher Ex-Sklaven, aber niemals Kü­chen-, Harems- oder Plan­ta­gen­sklave, sondern aus­schließ­lich Generäle. Nur Sklaven des Sultans oder eines hohen Beys konnten Sultan werden. Das Verhältnis der Sklaven zu ihren Händ­lern war weit besser als das der heu­tigen Wirt­schafts­flücht­lingen zu ihren Schleppern. Eltern ver­kauften Kinder, damit diese es besser hätten; sogar freie Jungs ver­suchten, als Sklaven in die Rekru­ten­anstal­ten zu gelangen.

Was die Sexualität betrifft zeichnet Bauer folgendes Bild: Mit Sex ging man «locker und unge­zwungen» um, Verbote waren rein theore­tisch. In tausend Jahren wurde nie­mand wegen ein­ver­nehm­lichem Sex zwischen Männern ver­urteilt. «In der isla­mi­schen Sexual­ethik wird Sex als etwas unein­geschränkt Positi­ves gesehen. Der Geschlechts­verkehr diene, so al-Ghazäli, erstens dazu dem Menschen einen posi­tiven Vor­geschmack auf das Paradies zu geben, und zweitens, für den Fort­bestand des Men­schen­geschlechts zu sorgen — man beachte die Reihen­folge!»

Nun, leider ist das falsch, sogar die Reihen­folge;
in der Iḥyāʾ ʿUlum ad-Dīn (al-Ghazālīs Haupt­werk) kommen we­der «Geschlechts­verkehr» noch «Men­schen» vor; es geht um «Männer» und «das Bestel­len/al-ḥirāṯa» (d.h. Pflügen und Besamen) der Ehe­frauen. Statt «Fort­be­stand des Menschen­geschlechts» steht im Original «Söhne» und dort geht es auch darum, durch Koitus die mus­limi­sche Ge­meinde zu vergrößern. Die Lust stellt al-Ghazāli als ein Werk­zeug des Satans vor und als Trick Gottes:
Der Mann bekommt einen Vor­ge­schmack auf Paradies­freuden, unter­wirft sich des­halb völlig, um in den Himmel zu kom­men. Al-Ghazāli gelingt es sogar trotz des Vor­bilds des Gesandten, der bekannt­lich kleine Mädchen, Frauen und Wit­wen hei­ra­tete, alles andere als ein «unein­ge­schränkt posi­tives» Urteil abzu­geben: Nur in den ersten 200 Jahren des Islam seien die Frauen züchtig und tüch­tig gewesen, heute sei das anders. Ganz wie Paulus stellt al-Ghazāli die Ehe­losigkeit über die Ehe.
Ambig Bauers Behaup­tung, dass das Verbot gegen Sex außer­halb von Ehe und Kon­kubinat «gültig und nicht gültig» sei, dass diese «Gesetze undurch­führbar» seien und dass man mit ihnen «lax umge­gangen» sei, ist Unsinn. Er selbst gibt an, dass im Gesetz selbst hohe Beweis­hürden errichtet wur­den. Das Verbot war absolut gültig, doch der Voll­zug der Strafe war fast nur bei einem Geständnis möglich. Wenn er aber meint, dann sei das Gesetz «ir­relevant», zeigt er, dass er nichts kapiert hat.
Es ist ja nicht nur so, dass wir wenig über Ver­urteilungen wegen «ein­vernehm­lichen Sex zwischen Männern» wissen, — wir wissen überhaupt nichts darüber — im Ge­gen­satz zu Ver­gewaltigungen. Es gab ent­weder keinen einver­nehm­lichen Sex zwi­schen Männern oder man hielt es geheim, weil man sich schämte und Angst hatte.
«Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt durch sein Leugnen die Gültig­keit des Verbots; solch deviantes Ver­halten wird to­le­riert. Wer sich non-konformi­stisch verhält, sich also um ein Verbot einfach nicht kümmert, es für sich außer Kraft setzt, ohne seine all­gemeine Gül­tig­keit anzugrei­fen, wird in Frie­den gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine Gültig­keit bestreitet, muss zur Raison ge­bracht werden. Denn der ist ein Ungläu­biger, der etwas erlaubt, was in der Religi­on des Propheten verboten ist» (A. Schmitt: Liwat)
«Im vor­kolonialen Nahen Osten war es selbst­ver­ständlich, dass schöne junge Män­ner begehrens­wert sind». Belege dafür gibt es nicht. In den Tausenden von Liebes­ge­dichten in denen es nicht ausdrücklich um Frauen geht, wird nie männ­liche Schön­heit besungen, nie Waschbrettbauch, kan­tiges Kinn, ... statt dessen weite Hüfte, Wackelarsch, trippelnder Gang, Baby­speck ... Auch, wo mit dem Maskulin keine Frau gemeint ist, was die arabische Gram­matik erlaubt, geht es nie um Virilität; die Dichter wollten den Knaben kokett und unter­würfig, zart und gefügig. Mit Homo-Erotik, also mit Begehren eines Gleichen, hat das nichts zu tun.
Thomas Bauer behauptet, in den «Bart­wuchs­epi­grammen» ginge es um kräftige Bärte; es ist aber immer von zartem Flaum die Rede. Er behauptet, der Bart werde in Kauf genommen, weil der «Jüngling ... noch immer süß» sei.
Da steht aber, dass er noch immer Schönes gewähre, nämlich dass er sich pene­trieren lässt.
Im nächste Gedicht werde «der Bart­wuchs als etwas rundum Positives dar­gestellt»:
"Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, der zieht nicht fort, wenn Früh­lings­blumen sprießen."
Es geht aber nicht darum, dass die Gegend jetzt rund­um schön und damit auch der Bart schön sei.
Vielmehr sagt der Dichter: Wer in einen unbehaar­ten Anus rein­gelas­sen wurde, verzichtet auf derlei Freuden nicht wegen zarter Frühlings­härchen, die jetzt rund um den Anus sprießen.
Merkwürdig auch Bauers «Fort­leben»-Be­hauptung. Gewöhn­lich nimmt man an, dass die Muslime nur die nütz­liche Litera­tur der Griechen rezipier­ten: Medizin, Phi­losophie, Mathematik und Astro­logie, dass sie aber von Homer, Sophokles und Sappho gar keine Kunde hatten. Bauer schreibt, mit den letzten Flaum­gedichten ende eine «zwei­tausend­jährige Tra­dition, denn es ist schwer vorzu­stellen, dass das ara­bische apolo­getische Bartwuchs­epigramm nicht die Tra­dition seiner antiken Vor­läufer fort­setzt.» Im Gegen­teil: Ohne Informa­tionen über Grie­chisch-Kennt­nisse bei ara­bi­schen Dichter und Manu­skripten mit griechi­scher Lyrik im Besitz islami­scher Gelehr­ter kann ich mir Bauers «Fort­setzung» nicht vor­stellen.
Insgesamt malt er ein rosiges Bild vom vor­kolonia­len Nahen Osten, in dem Sklaven zu Prinzen wurden, und Päd­erasten ihrer Lust frönen konnten ‒ Frauen und Pene­trierte kom­men aber nicht zu Wort. Gewiss, «bei uns» kann man nicht nur durch Tat und Wort sündigen, sondern schon in Gedanken, aber dass «der Islam» einfach nur sinnen­froh gewesen sei bis die Kolonial­herren ihn ver­darben, stimmt nicht. Auch Muslime sprachen von dunklen Trieben, und wenn «im Islam» das Begehren des Mannes we­niger ver­teufelt wurde als «bei uns», so ver­teufelten Muslime die Frau umso mehr. Und bei der Ver­teufelung der Frauen zieht sogar manch lockerer Sufi mit strengen Hamba­liten an einem Strick.
Die Idee, dass die Verachtung der Pene­trierten, mit der Stel­lung der Frau in der Gesell­schaft zu tun hat, kommt Bauer nicht.

Bei Ambig Bauer kriegen alle Reaktionen auf die Moderne ihr Fett ab; bei ihren jeweiligen Ahnen ist er jedoch partei­isch: Während die «Helden» der Reformer, die «rationa­li­stischen» Mu'tazi­liten als dogmatisch und rigoros getadelt werden, schimpft er mit ihren ‒ genauso dogmatischen und ri­gorosen ‒ Gegnern, den Hamba­liten, nicht. (Übrigens besteht die «Rigoro­si­tät» der Mu'tazi­liten darin, dass bei ihnen auch Muslime, wenn sie schwer sündi­gen und nicht bereuen, in die Hölle kommen und nicht nur Juden, Christen und Heiden.) Das gehört zu Bauers Strate­gie, den frühen Is­lam ‒ in dem Theo­logie noch dis­kutiert wurde ‒ und den späten ‒ die Ant­worten auf die Koloni­satoren ‒ gegen­über dem da­zwischen ‒ in dem das Dogma un­hinter­fragt war ‒ runter­zumachen.
Eigenartig, dass Bauer zu dem Thema die Arbeiten von Fach­leuten völlig un­erwähnt lässt, (Khaled el-Rouayheb, Before Homo­sexua­lity in the Arab-Islamic World 1500- 1800 und Dror Ze'ev, Producing Desire. Changing Sexual Dis­course in the Otto­man Middle East), die das Gebiet genauer erforscht haben als Bauer; auch die Arbei­ten von Everett K. Rowson und Frederic Lagrange bleiben unerwähnt.


eine Mentalitätsgeschichte?
Ob er wirklich eine Mentalitätsgeschichte des Nahen Osten vom 10. bis zum 19. Jahrhundert geschrieben hat, wie er glaubt, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob man von den Abhand­lungen der städtischen Gelehrten auf die Menta­lität der Bauern schließen kann – so wenig wie man von William von Ockhams Schriften auf die seeli­sche Verfassung bayrischer Bauern, und von denen eines Erasmus auf die von Rhein­schiffern schließen kann.

schlicht falsch
Wenn ich kritisiere, dass Bauer sich seinen Islam zurecht­legt, indem er fast alle Islame ignoriert – sowohl im Sinne von „nicht kennt“ wie im Sinne von „über­geht = dem Leser vor­ent­hält“, dann geht es nicht nur um Faul­heit. Bauer tut so, als sei der Muslim vor der An­steckung durch das moderne Europa gar nicht in der Lage gewesen, Ein­deutig­keit zu ver­langen. Zu solchen Aus­führungen über den Koran, wie sie saʿudi­sche Ge­lehrte heute pro­duzieren, sei der von Europa noch nicht ver­dorbene Muslim nicht in der Lage gewesen, für diesen sei Viel­deu­tig­keit geradezu eine Notwen­dig­keit ge­wesen. Nun schreibt Aḥmad b. Muḥam­mad as‐Saiyā­rī im Kitāb al‐qirāʾāt über den Koran: bal huwa ḥarf wāḥid min ʿindi wāḥid nazala bihi malak wāḥid ʿalā nabī  wāḥid (er hat éine Lesart, kommt von Einem, ist éinem Propheten durch éinen Engel geoffenbart); Saiyārī lebte aber tausend Jahre vor der Bauer­schen Ver­schwö­rung des Westens, den Islam auf Linie zu bringen.
Die Belege, die Bauer von seinen Gelehrten bringt, sind höchst auf­schluss­reich; mit dem (vormodernen) Islam darf man sie aber nicht ver­wechseln.

Islamisierung des Islam
Seitenlang wütet Bauer – zu Recht – gegen die „Islami­sierung des Islam“, was zweierlei meint: einmal, dass man die islamische Religion theolo­gisiert, sie paral­leler zum Christentum macht als sie ist, spielt doch in ihr das Dogma eine weniger wichtige Rolle, zum andern, dass man die Gesell­schaft religiö­ser macht als sie ist. Und in diesem Zusammen­hang schimpft er gegen die Dummheit, „Islam“ und „islamistisch“ zu benutzen, wo die Religion gar nicht gemeint ist. Er selbst macht dies leider auch immer wieder – nicht nur im Titel des Buches. Ich selbst behelfe mich damit, dass ich „muslimisch“ eher für religiöse Aspekte nehme und „islamisch“ für die Zivi­lisation benutze. Er zetert über Islam­experten, die gar nicht über die Religion reden sondern über alles Mögliche im nahen Osten, ohne zu erwähnen, dass das einer Binnen­sicht ent­spricht: Die Muslime nennen die gesamte von Muslimen beherr­schte Welt das „Haus des Islam“; wenn etwas davon an die Fehl­gläubigen verloren geht, sind sie gekränkt und in ihrem Haus ist ein christ­licher Präsident unvorstell­bar. Bauer über­sieht auch, dass Reli­gion nicht nur Dogma, persönlicher Glaube, offi­ziel­ler Ritus, Zaube­rei/Hexe­rei, Versenkung und Ver­zückung ist, sondern auch ein gesell­schaft­liches Phäno­men. Egal wie unfromm einer ist, wenn er Alawit, Jude, Druse, Christ ist, wird er im Dār al‐Islām anders behandelt als ein Recht­gläubiger – und (des­halb?) handelt er auch anders.
Bauer kämpft gern gegen Papp­kamera­den: Er tut so, als hielten die Orienta­listen die Medizin des Nahen Ostens für religiöse Medizin, obwohl sie doch völlig unreligiös sei, nämlich die alte hippo­kra­tisch‐gale­nische. Acht Seiten später – wenn von Medizin nicht mehr die Rede ist – schreibt er, dass im vor­kolonia­len Nahen Osten „auf allem ein religiöser Fein­staub“ (201) liege. Es gebe Religion gar nicht als eine eigene Sphäre, alles sei irgend­wie religiös. Hätte er das ein­gangs eingeräumt, hätte er sich viel Schaum vorm Mund sparen können. So gibt es auch gar nicht die von ihm be­haup­tete harte Trennung (195: wenig Ambi­gui­täts­tole­ranz) zwischen „grie­chi­scher“ und „prophe­tischer“ Medizin. Auch die musli­mischen Praktiker der grie­chi­schen Medizin haben keinen Ader­lass ge­macht, ohne die Basmala zu mur­meln; auch sie haben ihr Behand­lungs­zimmer mit Kalli­graphien der āyāt aš‐šifāʾ geschmückt. Und wenn man sich die Bücher der pro­phe­ti­schen Medi­zin anschaut, so gibt es – beson­ders bei Ḥamba­liten – welche mit viel Hilde­gard­medizin (Bauers Analogie) aber auch solche, die außer ein paar from­men Sprüchen die übliche Lehre und Heil­methoden bringen. Die Trennung von welt­licher und religiöser Medizin war so streng nicht.

Kapitelendnoten
Für den Leser, der Bauers Gedankengänge nachvollziehen will, ist das Buch eine Unverschämtheit. Der Autor schreibt: „Der Leser sei versichert, daß Anmerkungen auf nichts verweisen als auf Quellen‐ und Literaturangaben ... Ihm entgeht also nichts inhaltlich Wichtiges, wenn er eine entspannte Lektüre per­manen­tem Nach­schlagen vorzieht.“ (25)
Oft bieten die Kapitel­endnote keine Primärquelle für die Behaup­tung, sondern irgend­einen Feuilletonisten, der Bauers Meinung schon früher vertreten hat. Ob man dort Quellen findet, weiß man nicht. Bei arabischen Texten gibt Bauer die Seite nach einer beliebigen Aus­gabe an. Würde er zusätzlich kitāb, bāb, faṣl angeben, könnte man die Stelle in jeder Ausgabe finden. Noch praktischer wäre ein Originalzitat. Aber weil fürs große Publikum geschrieben, verzichtet Bauer auf die Nachvollzieh­barkeit. Ich kann nicht glauben, dass Fußnoten einen so großen Abschreckungs­effekt haben. Dann könnte man ja auch gleich auf diakritische Punkte in der Umschrift verzichten.
Und Bauer hält sich nicht mal an seine Ver­sicherung. Der folgende Satz ist doch wohl weder eine Quellen‐ noch eine Lite­ratur­angabe:
„Die Begriffe »Homo­sexua­lität« (Erstbeleg 1869) und »Hetero­sexualität« (Erstbeleg 1880) gehen auf Karl Maria Kert­beny (1834‐1882) zurück“ (421)
Das ist (selbstverständlich) falsch und zeigt, dass Bauer jeden Unsinn glaubt. In der deutschen Wikipedia ist sowohl unter „homo­sexuell“ wie unter „Karl Maria Kert­beny“ der Erstbeleg für beide Begriffe abgebildet. „Natürlich“ hat Kertbeny sich die Begriffe gleichzeitig ausgedacht.
A propos „gleich­zeitig“: Im Theorie­kapitel schreibt Bauer, dass wenn „in einer Stadt“ zur gleichen Zeit eine „Bevölkerungs­gruppe“ eher zum Heiler geht und eine andere zum Mediziner, dann sei das nicht „gleich­zeitig“ – „gleich­zeitig“ sei nur, wenn die gleichen Menschen beide Heil­methoden akzeptieren. Abgesehen davon, dass dann viele seiner Beispiele aus dem nahöst­lichen Bürgertum seine Grund­these gar nicht stützen, denn sehr viele Ḥam­ba­liten akzep­tier­ten weder Schi­iten noch Sufis, finde ich Defini­tionen, die dem Grund­sinn des Wortes wider­sprechen, nicht Erkenntnis fördernd.

Lust
Weil das Buch sich an das große Publikum wendet, greift Bauer oft Kolle­gen an, ohne deren Namen zu nennen, oder er schreibt von anderen ab, ohne irgend­wie anzudeuten, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Zum Komplex mann‐männliche Sexualität und Erotik erwähnt er nur Massad und Klauda, von denen einer gar keine Quellen studiert haben kann, weil er kein Arabisch kann. Dass Everett K. Rowson und Arno Schmitt seit über zwanzig Jahren Grund­lege­des dazu ge­schrie­ben haben, bleibt genauso unerwähnt wie die Arbeiten von Frédéric Lagrange, Dror Ze’evi und Khaled el‐Rouayheb; letzt­genannter hat viel genauer erklärt, wieso ver­schieden­artige Dis­kurse zu dem, was wir als éine Sphäre ansehen auf arabisch neben­einander existieren.
Bemerkenswert auch, dass Bauer, den Haupt­gedanken der von ihm erwähn­ten Bücher nicht versteht: Dass es nämlich im „vor­kolonialen“ Denken und Schreiben der Araber weder den Begriff noch das Wort „Homo­sexualität“ gibt, dass also bei ihnen der Bereich des Lebens, den wir heute als „Sexua­lität“ bezeichnen, anders struk­turiert war.
Massad Public Culture 14(2): 383f.:
Durch ihr Gerede über Homo­sexuelle, wo es bis dahin keine Homo­sexuellen gegeben hat, hetero­sexualisiert die Schwule Internationale (Amnesty Inter­national und schwule Menschen­rechts­organisa­tionen) eine Welt, die bis dahin von Homo­sexuellen und Hetero­sexuellen nichts wusste. Die Wir­kung ist in der musli­misch‐arabischen Kultur alles andere als befreiend: Männer, die bei mann‐männ­lichem Sex als passiv oder auf­nehmend gelten, werden gezwungen, ... sich als homo­sexuell oder schwul zu identifizieren, und die eindringenden Männer müssen sich auf éine Art von Objekten, Männer oder Frauen be­schränken. So werden aus ihnen Hetero­sexuelle, weil sie sonst in den Begriffen, die ihnen die Schwule Inter­natio­nale einzig lassen, zu Anormalen werden, mit allen Nachteilen, die das bedeutet..

– Während im modernen westlichen Denken ein Mann einen Mann lieben kann, die mit­einander Sex machen, kann im tradi­tionellen, mediter­ranen, patri­archa­li­schen Denken ein Mann nur mit einem Nicht‐Mann (Tunte, Trans­vestit, Knabe, Mädchen, Frau) Sex machen (die Unzahl von Verben sind alle transitiv: schlagen, be­steigen, reiten, ficken…).
Für zāniya benutzt Bauer das deutsche „Ehe­brecherin“ (282), obwohl weder die zāniya noch ihr Partner ver­heiratet sein müssen, dem­zu­folge keine Ehe brechen – und aus dem Text, wie Bauer ihn uns vorstellt – geht auch nicht hervor, dass die zāniya eine Ehebrecherin gewesen sei. Zu­gegeben: „Ge­schlechts­verkehr mit einer Person, mit der man dazu nicht das Recht hat“ ist deutlich länger und holpriger als „Ehebruch“ aber wenn man genau sein will, darf man nicht schlampen.
Bauer bringt das Kunst­stück fertig, Sexualität als kulturelles Konstrukt auf­zufassen („es ist keines­wegs selbst­verständlich, alle Handlungen und Emo­tionen, die direkt oder indirekt mit den Geschlechts­organen verbunden sind, auch unter­einader ver­bunden sind und ein eigener Bereich der menschlichen Persön­lich­keit“ bilden), aber Homo­sexualität als kultur­über­greifend dar­zu­stellen. Das erreicht er dadurch, dass er zwanzig Mal von ein­vernehm­lichem Sex zwischen Männern spricht, auch von Liebe zu einem Jüngling, obwohl wir doch für den Nahen Osten nur von Vergewalti­gungen und Päderastie Kennt­nisse haben. Dass Sexua­lität im Westen als „isoliert von den übrigen Gefühls‐ und Handlungsbereichen“ und „streng getrennt“ (273) ange­sehen wird, kann ich nicht finden. Noch seltsamer erscheint mir, dass nach Bauer „der Westen“ die Sexua­lität bewusst geschaffen habe, er spricht nämlich von dem „Projekt [des Westens], eine von allen Bereichen mensch­lichen Erlebens geschiedene Sphäre der »Sexua­lität« zu etablieren“ (274). Richtig ist, dass man ein Kraulen der Brust­haare und eine Vergewal­tigung zwecks Er­niedri­gung nicht in einen Topf werfen muss, aber komisch finde ich, dass Bauer nur zwischen Sexua­lität und Liebe zu unterscheiden weiß; nicht mal zwischen „jemanden für begehrenswert halten“ und „jmd. begehren“ macht er einen Unter­schied. Gewiss, um 1965 macht sich ein Mann in der BRD schon verdächtig, wenn er die Schön­heit eines Jünglings oder Mannes bemerkte, aber dies ist noch lange kein Begehren oder – was für Bauer das Gleiche ist – sich in einen Jüngling oder Mann Verlieben. Diese Blind­heit für Aspekte und Grade der Liebe ist umso bemerkenswerter, als Muslime darüber umfang­reiche Bücher verfassten.
Da es Bauer nur darum geht, heraus­zuarbeiten, dass der Westen den Nahen Osten moralisch verdorben habe, inter­essiert ihn nicht, ob es zwischen den Liebes­theorien der islamischen Gelehrten und der west­lichen Denker bezeich­nende Unter­schiede gibt. Ich jedenfalls halte es für signifikant, dass im Nahen Osten ein­seitig gedacht wird (ich liebe x, ich begehre x, ich umwerbe x, ich ficke x), im Westen gegen­seitig   (ich will, dass x mich begehrt, ich sehne mich danach, von x wahrgenommen zu werden, ich will mit x ficken). In der reifen, westlichen Liebe oszillieren die Rollen­zuschrei­bungen, da liebt man/frau nicht nur ein Objekt, sondern man iden­ti­fiziert sich zweitweise mit Anteilen des Andern, man ist (wenigstens phasen­weise) aktiv und passiv. Als historischer Materialist bin ich der An­sicht, dass diese Art Liebe zu denken erst entsteht, wenn Frauen auch im Betrieb und der Politik Chef sein können. Ich habe in meiner Besprechung in inamo darauf hingewiesen, dass Bauers Kronzeuge für sinnen­frohen Sex, der Imām Ghazālī, genau wie Paulus die Askese über die Ehe stellt; Ibn Qaiyim al‐Ġauziya weist eine andere Parallele mit dem Gründer des Christen­tums auf: Arsch­ficken als Ursache und Folge des Abfalls vom Glauben. Wer Islam und Christentum vergleicht, sollte beides studiert haben; nach meinem Eindruck hat Bauer das eine gar nicht und das andere recht selektiv studiert. Er hat bei diesem Teil­studium vieles ent­deckt. Leider schreibt er auch über die Bereiche, die er nicht studiert hat. „Kapitalisti­sches Kon­kurrenz­denken (kKD) und einfühlsame Freund­schaften sind aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (275)

Mit keinen Wort erklärt Bauer warum gerade das kapitalistische KD mit Freund­schaft schlecht zusammen geht oder auch nur wodurch sich kKD von anderem KD unter­scheidet. Vorher schreibt er, dass der Araber „als »agonaler Mensch« charakte­risiert werden [muß]. Neben den bewafneten Kampf der Sippen und Stämme trat der Wettkampf in der Jagd, im Wett­rennen und im Wett­schießen. Noch wichtiger war der aber Wettkampf der Dichter“ (254). Der Araber ist also laut Bauer von Kampf­denken durch­drungen. Warum verträgt sich arabisches KD mit Freund­schaft, aber nicht kKD?

Bauers Behauptung der Bürger habe die Homosexualität erfunden, um als ganz und gar heterosexuell dazustehen (276), leuchtet mir nicht ein; ich gehe davon aus, dass es in der fraglichen Zeit (grob 1850‐1950) im Bürger­tum mehr Homo­sexuelle gab als in der Arbeiterklasse. Schön auch die Behauptung, dass im 19. Jahrhundert Kapitalis­mus, Kolonia­lismus und Psycho­anlayse „trium­phierten“ (276), obwohl letzt­genannte erst im 20. Jhd. entstand. Und dann kommt eine Formulierung, die „die ameri­kani­sche Forscher“ der Stammtische lässig toppt: „Es ist mittler­weile gut nach­gewiesen, daß die euro­päische Konstruktion der Sexualität mit dem Imperia­lismus in einem innigen Wechsel­verhältnis steht.“ (277) – sorry, „innig“ habe ich rein­geschmug­gelt, aber sonst ist es doch eine Leer­aussage; steht nicht alles mit jedem in einem Verhält­nis? „Die Macht des Westens griff nun auf jene fernen, exoti­schen Welten zu, ... wo ein Sex blühte, der die westlichen Ordnungen des Sexes gefähr­lich ins Wanken brachte.“ (277) Der Imperia­lismus schafft also Imperien, um die westliche Ordnung des Sexes vor dem Umfall zu schützen. Da sehe ich noch andere Interessen.

Bauer spricht von „Ambiguitätsdimension“ von Sex bzw. Liebe (278), wo er nach seiner eigenen Definition von Ambivalenz sprechen müsste (38, passim).
„Die wichtigste Ursache für Ambiguität ist die Plura­lität der Diskurse“ (268f.) Entweder habe ich Bauer überhaupt nicht verstanden, oder das stimmt so nicht.
Gewiss, verglichen mit heutigen Salafisten waren die Denker des klassischen Islam Rheinländer. So wie katho­lische Bischöfe am Nieder­rhein den Kohlen­klau für den Eigenbedarf freigaben und den Gläubigen erlauben, gegenüber den Ämtern (Job­cen­tern) falsche Angaben zu machen, solange Frei­beträge und Regel­sätze zu niedrig sind, so galt auch in muslimisch gepräg­ten Nahen Osten „leben und leben lassen“, „Fünfe gerade sein lassen“ und „beide Hühner­augen zudrücken“. Oder anders gesagt: Wie der Rhein­länder und der italie­nische Süd­länder, wusste auch der Levan­tiner, dass das Gesetz „auf dem Papier steht“, „das Leben aber das Leben“ ist. Aus diesem Blick­winkel ist der von Bauer kon­sta­tier­te Ab­grund zwischen Köln und Kairo gar nicht so tief und nicht so weit.
Merkwürdig auch, dass Bauer die Spannung zwischen zwei wich­tigen Grund­sätzen völlig übergeht. In tausenden von Büchern stößt man auf al‐ʾamr bi’l maʿarūf wa an‐nahy ʿan al‐munkar (das Gute be­feh­len und vom Bösen ab­hal­ten), womit in Saʿudi‐Arabien die Reli­gion­spoli­zei gerecht­fertigt wird. Im klas­si­schen Islam stehen diesem – unbe­strit­tenen Gebot – gleich drei Regeln gegen­über: die tri­vial­ste ist die Er­kennt­nis, dass es nicht großen Mutes bedarf, einen Schwachen auf seine mangeln­de Fröm­mig­keit hin­zu­weisen (über die der sich ohnehin klar sein dürfte), dass es also darum geht, dem Mächtigen, der seine Kom­pe­ten­zen über­schrei­tet, in die Schran­ken zu weisen. Das zweite Gegen­mittel ist eine der wich­tig­sten Tugen­den über­haupt: ṣabr (Geduld), was nicht nur Hart­näckig­keit/Be­har­ren, sondern auch Duld­sam­keit gegen­über Sün­dern ein­schließt. Schließ­lich gilt: Was Gott mit dem Schleier (saṭr) bedeckt hat, soll der Mensch nicht aufdecken. Es geht also einen gesitteten Bürger nichts an, was im Priva­ten ge­schieht; selbst wenn laute Musik aus einem Haus dringt, berech­tigt das nieman­den, in das Haus einzu­dringen, um zu schauen, ob dort even­tuell Wein ge­trunken wird. Der Fromme darf zwar seinen Nach­barn des­wegen er­mahnen, aber ohne ihn bloß­zustellen. Üble Nach­rede ist eine Sünde gegen Gott und die Mit­menschen.
Anders gesagt: Mir besingt Bauer zuviel die hohe „Ambi­guität­toleranz“, buch­sta­biert sie zuwenig als lebens­wirkliche Viel­falt und lais­sez‐faire aus. Er schaut mir zuviel in die Bücher, zuwenig in die Häuser, Bäder und Gärten.
Seitenlang führt Bauer aus, dass Christen beim Voll­ziehen der Ehe keinen Spass haben dürfen, ohne das irgend­wie zu belegen – das ein­zige Zitat, das er bringt, geht gegen Empäng­nis­verhütung, nicht gegen Spass dabei.
Und da ich schon bemerkt habe, dass er ein ganz priva­tes ver­zerrtes Bild von der Kirche hat, habʹ ich bei Kirchen­vätern und Scho­lasti­kern, und auch in die Beicht­spiegel aus meinem Bücher­schrank geschaut. Hier das Ergebnis:
„Habe ich gesündigt durch Miß­brauch der Ehe? durch Miß­brauch mit mir selbst? durch Rücksichts­losigkeit? durch Mangel an Opfer­bereit­schaft?“ (Gesang‐ und Gebet­buch, Trier: Paulinus 1955. S. 615)
„Habe ich die Pflichten der Ehe verletzt?“ (Schott, Messbuch, Anhang, Freiburg; Herder, 1929 – 1966 unverändert)
„Achte ich die persönliche Würde meines Ehe­partners? Bemühe ich mich, daß unsere Liebe zueinander wächst? Oder war ich eigen­süchtig, rück­sichts­los, nach­tragend, zu empfindlich?“ (www.herzmariens.de/Texte/beichte/erwachs.htm)
„Suche ich die Person meines Ehe­partners oder sehe ich in ihm nur ein Mittel zur eigenen Befrie­digung?“ (Gotteslob)
Selbst bei den Fundamen­talisten ist nur von Empfängnis­verhütung die Rede, nie von unerlaubter Lust in der Ehe.
Bauer macht viel daraus, dass im Westen mit der Natur für und gegen bestimmte Formen des Sexes argumentiert werde, die Natur sei die Hure der Moral, im Islam gebe des dergleichen mit ṭabīʿa nicht. Viel­leicht sollte er mal unter fiṭra oder ḫalq nachgucken.

Kein Lekorat
Komisch, dass bei Bauer einmal die Jurisprudenz vor aš‐Šāfʿī „an der Tradition des Propheten aus­ge­richtet“ war (42) und ein ander Mal es Šāfʿīs Werk war, „das Propheten­ḥadīth als Rechts­quelle“ zu etablieren (159). Hat er da zwei unter­schied­liche (unge­nannt bleibende) Quellen zu Rate gezogen? Nach meinem Ver­ständ­nis hat die zweite Recht: Vor aš‐Šāfʿī hat man sich an der Praxis der Gemeinde, dem Koran und ver­nünftigen Argumen­ten aus­gerichtet.
Falsche Aus­drücke, Wieder­holungen, schiefe Bilder stören – der Verlag hat wohl am Lekto­rat gespart. Sonst hätte etwa Abū‐Ḥanīfa den Binde­strich ver­loren. Mir sind auch viel zu viele „bekannt­lich“s, „also“s, „offen­sicht­lich“s und „zwei­fel­los“e drin. Verglichen mit anderen deut­schen ProfessorInnen schreibt Bauer schön, doch es ginge auch mit weniger Englisch und Latein.
Köstlich sind Formulierungen wie „Unnötig zu sagen, daß“ (270). Bezeichnen­der ist, dass Bauer „Ideo­logie“ für „ambiguitäts­feindlich, klar und totalitär“ (52, 58) hält – ohne den Begriff zu definieren oder eine Quelle für dieses Ver­ständnis des Wortes anzugeben. Dass Marx den Begriff als Ver­schleie­rung ungerechter Ver­hältnisse und als Recht­fertigung von (Klassen‐)Interes­sen charak­terisiert, ist ihm nicht bekannt

gharīb
Ein ganzes Kapitel widmet Bauer den Fremden im Islam bzw. bei Arabern. Er sagt, dass es im klassischen Arabisch weder den Begriff noch die Vor­stel­lung von Frem­den gegeben habe. Er behauptet, dass Fremd­heit im Arabischen nicht ob­jektiv von außen gedacht ist, sondern als „emotiona­ler Mangel im sich fremd fühlenden“, dass Fremd‐Sein „durch kein Wort aus­gedrückt werden“ kann. (347) Bauer ist hier auf seinem Gebiet und er hat das aus­führlich stu­diert, aber ich glaube es trotz­dem nicht. Das gleiche Wort (gharīb) wird näm­lich nicht nur auf Menschen ange­wandt, sondern auf alles mög­liche, zum Bei­spiel auf Worte im Koran, und von denen glaube ich nicht, dass sie sich in ihrer Um­gebung nur fremd fühlen; im Wörter­buch steht: seltsam, auf­fallend, un­ge­wöhn­lich, wunder­lich, eigen­artig, sonder­bar, grotesk, schwer verständ­lich, dunkel, entlegen, aus­gefallen, ge­künstelt, mani­riert. [Noch zwei­mal wäre das Wort in anderem Kon­text von Bauer zu nennen: Ein Muḥammad-Spruch, der nur von einem über­mittelt wird, heißt so (und nicht wirklich shadhdh wie Bauer schreibt), und ein Soldat, der aus einem anderen Regi­ment ab­komman­diert wird, mag sich zwar fremd fühlen, aber der wird vor allem wie ein Fremder behandelt.]
Heute zumin­dest benutzen die Araber Jerusalems das Wort genau wie wir, wenn sie von Fremden reden, manchmal benutzen sie auch al‐Khalaila (die Hebro­ner), so wie ein Bayer von „Preißen“ spricht; der Bewohner Marra­keschs hat ein be­mänteln­des und ein klares Wort für den Zuge­zogenen: Marrakschī (denn er selbst heißt nach dem Bei­namen „die Prächtige“ Bahjawī) und Barrānī (der Aus­wärtige). Besonders „freund­lich“ ist die ramallahe­sische Bezeich­nung Tai­landi für einen Gast­arbeiter aus dem Norden der Westbank oder die Bairuter für Dienstmädchen gleich welcher Herkunft: Srilankiya. Wem das nicht klas­sisch genug ist, Barbar/ʿajamī ist es gewiss. Man muss schon eine sehr rosa getrübte Wahr­nehmung haben, wenn man ernsthaft meint, der „klassisch‐islamische“ Araber sei ohne Aus­gren­zung aus­gekommen. Nur lief bei ihm die Abgrenzung eher über Verwandt­schaft (fremd­stämmig aǧnabī) und über Religion (anders­gläubig, ungläubig, ketzerisch kāfir).

Bauer klammert die Frühzeit aus, weil er "den" Vielfalt‐duldenden Islam besingen will, in dem es weniger ja‐nein gibt als sowohl‐als‐auch, weniger richtig als wahr­scheinlich. Nun ist es aber so, dass die Dogmatiker immer und über­all – oder vor­sichtiger gesagt: im Westen wie im Nahen Osten – eher auf ja‐nein behar­ren und die Juristen sich überall mit Mit‐an‐Sicher­heit‐gren­zender‐Wahr­schein­lich­keit zufrieden geben.
Indem Bauer die Früh­zeit, in der Glau­bens­fragen eine große Rolle spielten, links liegen lässt, und díe Epoche her­aus­stellt, in der Juristen den Ton angaben, erscheint der Islam als weicher. Die vielen Fälle, in denen in Bauers Mittel­alter Gelehrte ins Gefängnis kamen, wegen schiʿiti­scher, anthro­po­mor­pher oder sonsti­ger Ab­weichungen, lässt er – natürlich – uner­wähnt. Auch sonst ist er selektiv blind. Die Muʿtazi­liten, „angeblich rationa­listi­sche“ Lieb­linge des Westens, seien „rigoros“ für die ewige Hölle gewesen, wo hin­gegen beim sun­niti­schen Haupt­strom alle Muslime im Paradies Sex haben. Das Ar­gument der Muʿta­zila unter­schlägt er: Wenn ein Christ wegen der Sünde des Un­glaubens ewig bren­nen muss, dann ist es doch nur gerecht, dass ein Muslim wegen un­bereu­tem Lust­mord ewig be­straft wird. Er tut so, dass die Rati­ona­lität der Muʿtazila nur orienta­listische Pro­pa­ganda war, und den Wert von Gerechtig­keit gegen­über gött­licher Ty­rannei er­kennt er nicht. Er tut auch so, als habe man im post­forma­tiven Islam alles und jedes un­glauben dür­fen. Die Locker­heit in man­chen Fra­gen her­aus­zustellen ist Bauers Ver­dienst. Leider über­sieht er, dass diese Locker­heit auf der siche­ren Stellung seiner Pro­ta­gonisten, den männ­lichen, sunniti­schen Gelehrten, Büro­kraten und Herr­schern, beruht und dar­auf, dass das Dogma/ʿaqīda jeder Kritik ent­zogen ist, und das ist eine ganze Menge: Gott ist der all­mäch­tige, ewige Schöpfer und Erhal­ter der Welt, alle mensch­lichen Hand­lungen hat er geschaffen, Muhammad ist der letzte seiner Ge­sandten, der Koran sein un­ge­schaf­fenes Wort, es gibt Engel, Geister, Offen­ba­rungs­bücher, das Jüng­ste Gericht, Hölle und das Para­dies, die ersten drei Kali­fen waren recht­ge­leitet … Während es in der forma­tiven Phase noch Mani­chäer und Skep­tiker gab, und während man im moder­nen Europa Alles in Frage stellen kann, war das im Nahen Osten durch­aus anders. Natür­lich unter­schlägt Bauer, dass das Dogma zu akzep­tieren ist, ohne es ver­stehen zu wollen (bilā kaif), und dass nach Ibn Ḥam­bal das Offen­lassen von Glau­bens­punk­ten noch schlimmer ist, als Falsches zu glauben. Nur so kann Thomas Bauer die Posi­tion heu­tiger saʿudi­scher Ge­lehrter als völlig von der Tra­dition abge­schnit­tene, west­liche Haltung – wenn auch mit ande­rem Inhalt – dar­stellen. Er macht des Guten zu viel.

Zur Umschrift
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich bei der Um­schrift ver­suche, die ara­bische Hoch­lautung wieder­zugeben und nicht die Schrift. Die Wie­der­gabe der Schrift (Trans­litera­tion) ist nur dann sinn­voll, wenn die Leser mit der ara­bischen Schrei­bung vertraut sind, aber ara­bische Lettern tech­nisch nicht zur Ver­fügung stehen; für Biblio­thekare em­pfehlen einige ein Misch­system. In allen anderen Situa­ti­onen führen nur Dumm­heit oder gedanken­loser Tra­di­ti­ona­lis­mus zu in­kon­se­quen­ten Um­schriften, wie Ḥanbal obwohl Ḥambal ge­spro­chen wird ([mb] wird auf Arabisch immer nūn + bāʾ geschrieben und „un­beweg­tes“ nūn + bāʾ  wird immer [mb] ge­spro­chen). Bauer liefert viele Bei­spiele inkon­sequen­ter Um­schrift. Der Gipfel­punkt der Ver­schmockt­heit: „ich füge den ara­bischen Text hinzu; um einen akustischen Eindruck vom Klang des Ori­gi­nals zu bekommen, muß ... ‐an als ā ausgesprochen werden.“ (120). Warum schreibt er dann nicht ā – zumal im Arabischen ā geschrieben wird? Noch ein Beispiel: gharībun bi‐hādhihī l‐bilādi ghurbataini (344); am Ende von hādhihi ist weder ein ī/yāʾ geschrieben, noch wird hier ein langes ī gesprochen. Ich weiß, dass Bauer nicht der einzige deutsche Orientalist ist, der so verfährt. Dennoch ist es grotten­falsch.
Soweit meine Besprechung in inamo 70, Sommer 2012

Jetzt noch ein Abschnitt aus einem Vortrag, den Lutz Berger 2018 in Würzburg gehalten hat, den man ganz im Netz findet (plus meinem Einschub über nordisches Klima)

Ich glaube, es ist in diesem Kontext wichtig, die Felder, in denen Am­bigui­täts­toleranz postuliert wird, in den Blick zu nehmen. Ambigui­täts­toleranz herrschte im Bereich der Einzel­fragen der Religion, vor allem soweit diese poli­tisch unge­fährlich waren, viel­leicht im Bereich der Sexualität, soweit sie nicht erb­recht­lich relevant war, in einer Li­tera­tur, die nicht unbedingt als littéra­ture engagée ange­sehen werden kann. Die Freude am sprachlichen Spiel, der Stolz auf be­sonders ele­ganten Aus­druck, am Über­raschenden ist gerade da besonders groß, wo die elegante Form im Mittel­punkt stehen kann, wo man l'art pour l'art betreibt und nicht die Not­wendig­keit der Über­mittlung einer Botschaft die Freude an der Form erstickt. Alles, was mit politischer Macht, mit Besitz, mit sozialem Status zu tun hatte, war keines­falls Gegen­stand einer beson­deren Toleranz gegen­über Zwei­deutig­keiten. Die strikte Trennung von männ­lichen und weiblichen Sphären, von der oben bereits die Rede war, diente der Ver­meidung jedweder Ambi­guität in Hinblick auf Unter­halts- und Erban­sprüche.
Ich würde daher postulieren, dass die Freude an der Ambiguität und die Vielzahl der Felder, in denen sie zum Aus­druck gebracht werden konnte, etwas zu tun hat mit der Trennung der Sphäre der Intel­lek­tuel­len und Gelehrten, die Bauer unter­sucht, von der der poli­tischen Macht, die er nur am Rande behandelt. Ambi­guitäts­freude der Intel­lektuel­len ist Ausdruck des weit­gehenden Fehlens einer über­regiona­len politischen Öffentlich­keit, einer gelehr­ten Debatte über Macht und Politik. Über Macht­fragen entschied in der Regel das Schwert, nicht die öffent­liche Meinung der Gelehrten.
Die Bereitschaft, in politisch rele­vanten Fragen Meinung und Gegen­meinung öffent­lich und gleich­berechtigt neben­ein­ander­zustellen und die damit zu­sam­men­hängen­de Ambi­guität ausz­uhalten, war, so­weit ich sehe, in vor­modernen Ge­sell­schaften generell, jeden­falls aber in den isla­mi­schen Gesell­schaften der Epoche, die Thomas Bauer in den Blick nimmt, selten so groß wie in der klas­sischen europäi­schen Moderne, die doch in unserer Post­moderne gemein­hin gerade auf Grund ihres Drangs nach Ein­deutig­keit kri­tisiert wird. Was könnte von größerer Toleranz gegen­über wider­sprüch­lichen poli­tischen Wahrheits­ansprü­chen zeugen als das so moderne Konzept von „Her Majesty's loyal opposition“?

Ist Ambiguitätstoleranz ein spezifisch vor­der­orien­talisches Phänomen?
Ich würde auf den ersten Blick die These unter­stützen, dass im Ver­gleich mit west­euro­päischen Gesell­schaften vorder­orien­talische ten­den­ziell unein­deutiger waren. Das ergab sich daraus, dass dort in der Vormoderne zentrale und struk­turierte Institu­tionen der Normie­rung von Denken und Verhalten fehlten. Es gab keine Kirche, schon gar keine Inquisi­tion, der Unterricht war lange Privatsache und blieb dauerhaft viel stärker von den selbstbestimmten Interessen der Ler­nenden geprägt als im Westen. Was die höheren Studien angeht, än­derte sich das in der Osmanen­zeit bald nach 1500, aber nur für die, die im Staatsdienst Karriere machen wollten.
Was für die intellektuelle Welt galt, galt auch für die Gesell­schaft als Ganzes: Eine Stände­ordnung, die jeden in einen vor­gegebenen Le­bens­weg zwang, bestand nicht. Natürlich konnte nicht jeder vom Teller­wäscher zum mächtigen Günstling des Herrschers aufsteigen. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die soziale Ordnung deutlich offener war als in Alteuropa. Das Kon­zept der Privat­heit, das einem jeden die Möglich­keit gab, in seinem eigenen Bereich zu leben, wie er es für richtig hielt, verbunden mit dem Respekt vor den privaten Le­ben­ent­schei­dun­gen einzelner, war deutlich stärker ent­wickelt. Un­terschied­liche religiöse Gruppen lebten neben­einander – sicher mit klarer Rang­ordnung, aber doch deutlich spannungs­freier als in West­europa vor dem 18. Jh. All das schuf Voraus­setzungen für Ambi­gui­täts­tole­ranz, die in Westeuropa so nicht existierten.
Einschub Arno Schmitt: In Nord- und Mittel­europa schliefen Herrschaft und Gesinde, Männer, Frauen und Kinder – oft auch Tiere – im gleichen Zimmer – beim ein­zigen Feuer, über oder neben dem Stall. Im Mittel­meer­raum und beim Golf­strom war es einfacher, Einzelzimmer zu bewohnen.
Auch hier haben histo­rische Mate­ria­listen einen anderen Blick auf Phäno­mene der sozialen und der geistigen Welt als Idea­listen.
Aber können wir mit dieser These sicher sein? Können wir Ambigui­täts­toleranz objektiv messen? Ließen sich nicht, suchte man aktiv da­nach, zahl­reiche Bei­spiele für Ambigui­täts­tole­ranz auch in der alt­euro­päischen Kultur anführen? Waren westliche Reisende der Mongo­len­zeit von Wilhelm von Rubruk bis Marco Polo weniger unaufgeregt als Ibn Fadlân? Konnten Geist­liche der mittel­alterlichen Kirche sich nicht für die Literatur der heidnische Antike be­geistern oder un­züch­tige Vaganten­lyrik ver­fassen? Waren im Hause des christ­lichen Gottes nicht auch viele Wohnun­gen, so dass die Pracht der Bene­dik­tiner neben der Armut der Franzis­kaner stand?
Oder, um den Blick fort von Europa nach Ostasien zu wenden: Finden sich nicht in den Literaturen Chinas und Japans zahl­lose Bei­spiele für bewusste Unklar­heit und Doppel­bödig­keit, die denen der muslimi­schen Litera­turen in nichts nach­stehen?
Wenn wir von Literatur sprechen, können wir die Frage stellen, ob lo­gi­sche Strin­genz in Hand­lungs­ablauf und Charakter­zeich­nung in vor­modernen Litera­turen auch des euro­päischen Mittel­alters stets eingefordert worden ist. Hat man nicht hier oft Unklarheit und Zwei­deutig­keit toleriert, einfach, weil die Idee der logischen Stringenz von Erzählung genauso wenig zwingend ist wie die per­spek­tivische Dar­stel­lung in der Malerei.
Gleichviel: Vormoderne Kulturen, so möchte ich in aller Vorsicht for­mu­lieren, haben eine Tendenz, bei der Beschreibung der Welt unein­deutig zu sein. Die dauernde Einforde­rung von Ein­deutig­keit, Nor­mierung, Rechen­haf­tigkeit und das Streben nach dem Aufweis klarer Kausal­bezie­hungen in allen Bereichen von Welt­beschre­bung und -erklärung ist zweifelsohne ein Phänomen der west­euro­päischen Mo­derne genauso wie ihres nahöst­lichen Gegen­stücks und unter­scheidet beide von den Epochen davor. Die west­euro­päische Moderne ist aller­dings beim Beschrei­ben und Beherr­schen von Welt erfolg­reicher als die Moderne des Vorde­ren Orients, weil sie seit dem 17. Jh. die Vor­läu­fig­keit jeder ein­deutigen Beschrei­bung ange­nommen hat: ein zutiefst ambiges Kon­zept. Die Menschen im Vorderen Orient haben Moderne seit dem 19. Jh. auch als Kontroll­verlust wahr­genommen. Sie waren daher schlechter in der Lage, die Ambi­guität, die darin liegt, dass man einer­seits exakt beschreibt, erklärt und nor­miert, anderer­seits die Ergebnisse dieses Pro­zesses immer nur für vor­läufig hält, zu ertragen.

Hafez Osman der Ältere (der Große) Drucke

Ich habe ja schon mehrmals über die beiden Hafez Osmans gepostet, zugegeben, dass ich ihre Schrift nicht sicher ungescheiden kann, mich desh...