Thomas Ambig Bauer ist derzeit der beim Feuilleton beliebteste Arabist.
Weil er schreibt, was gängig ist. Weil er ausreichend vereinfacht.
Ich finde, er schreibt Unsinn.
Der Begriff »Ambiguität« ist im Deutschen weniger gebräuchlich als
sein englisches oder französisches Äquivalent, denn ambiguity und ambiguité
sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber auch im Deutschen unverzichtbar
Im Deutchen kann man auf das Wort bestens verzichten,
ja man sollte es so gut wie nie gebrauchen,
und schon gar nicht so wie Bauer, nämlich falsch.
Es kommt von
ambo (zwei) und
iggere (treiben)
Ambig Bauer benutzt es aber meist im Sinne von
vieldeutig
wo es doch zwei-triebig heißt.
Man braucht es im Deutschen überhaupt nicht,
wir können schließlich genauer sagen, was mir meinen:
zwei-deutig, un-eindeutig
zwei-gestaltig,
Zwei-Naturen, Zwi-licht, Nach-Sicht
doppel-bödig,
Zwi-tracht, zwiträchtig
mehr-deutig, viel-deutig,
Einspruch, Widerspruch, widersprüchlich,
unabgeschlossen, unentschieden, unentscheidbar, unübersichtlich
zwei-schneidig, zwie-gesichtig, zwie-lichtig (von neutral bis negativ)
Mit Widersprüchen leben, sie aushalten,
nicht leugnen von Widersprüchen, sie nicht zukleistern.
Vielfalt, Pluralismus, Dialektik, dialektisch,
Gegen-satz, gegensätzlich, plural,
Heterogenität,
janusköpfig,
Offenheit, offen lassen,
Grauzone, Vielfalt, gemischt,
unscharf, ungenau, vage, unklar, "irgend", "so in der Art", "oder so",
mit Toleranz, mit Spiel, mit Bandbreite, ungefähr, dehnbar, flexibel
Manchmal trifft es auch "5 gerade sein lassen",
es nicht zu genau wissen wollen, es im Dunkeln belassen,
"sowohl als auch", "jein" oder gleichzeitig.
Mal hilft es, Differenzen auszuklammern, eine Sache auf sich beruhen zu lassen,
Ungehöriges nicht zu "sehen", d.h. sie nichts aufs Tapet zu bringen.
Ambig Bauer will all dies mit éinem Wort verkleistern,
ich ziehe die Treff-Genauigkeit verschiedener Worte vor.
Ich verstehe schlicht nicht, wie ein des Deutschen Mächtiger
sagen, kann "ambig" (gesprochen ammbick) sei unverzichtbar.
Wenn ich nicht spinne, spinnt Ambig Bauer.
Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert,
muß man auch den Begriff der Bedeutung weiter fassen
„Wenn man den Begriff Ambiguität ... erweitert, muß man auch den Begriff der
Bedeutung weiter fassen“ (26). Muss man?
Ambiguitas
bedeutet: von‐zwei‐Seiten‐Treiben, Vagheit, Zögern, Zweifeln.
Aber all das meint Bauer gar nicht; er meint Vieldeutigkeit und nur wenn „Ambiguität“ gar
nicht seine lateinische Bedeutung hat, sondern nur ein hochtrabende Verkleidung
von „Vieldeutigkeit“ ist, muss man Bedeutung weiter fassen.
Muss man denn Latein schreiben, wenn man Deutsch denkt?
Unnötig auch einen „coitus pro natura“ zu erfinden, die Scholastiker meiner römisch‐katholischen
Kirche kennen nur einen „coitus naturaliter“, aber Bauer entstammt bestimmt einer alternativen
römischen Kirche.
Ich verstehe auch seine Schwierigkeiten nicht, den grünen Stecker in das grüne Loch und den roten in das rote zu stecken
– seine Ausführungen über drei Gebrauchsanweisungen, zwei Löcher und einem Stecker (S. 54‐56) sind konstruiert.
In der Welt, in der ich lebe, gibt es für Geräte mit zwei Löchern zwei Stecker, die durch lindgrün-rosa und kleine Symbole (Mikro-Kopfhörer) klar zugeordnet sind.
Wer liest dazu ein Handbuch?
Ginge es ihm nicht um Hochgelehrsamkeit sondern um Einsichten, dann kämen wir
mit Offenheit, Vielfalt, Sowohl‐Als‐Auch, Pluralismus, Heterogenität,
mit‐Widersprüchen‐Leben, Unabgeschlossenheit, Mehrdeutigkeit, „kommt drauf an“, „5 gerade
sein Lassen“, Streit‐Aushalten weiter als mit „Ambiguität“. Aber dann gelänge es
ihm weniger gut, dem Leser bis kurz vor Schluss weiszumachen, dass Islam gut und
Westen schlecht sei. Als Skeptiker habe ich mich gleich gefragt, ob das denn wirklich
so sei, dass der moderne Westen „klar und eindeutig“ sei und deshalb Bonaparte die
Mamelucken besiegt habe. Ich denke die vielen, relativ preiswerten,
schnell nachzuladenen Schusswaffen spielten dabei eine gewisse Rolle und dass Standardisierung
Massenfertigung erleichtert.
Bauers Behauptung, der Westen sei eindeutig, ignoriert, dass Standardisierung auch im Islam üblich war.
Die Standardisierung von Dinar und Dirham erleichterte den Fern-Handel. Aber schon der technische Fortschritt des Westens
war weniger Folge von „klar und eindeutig“ wie Bauer meint, als von „trial and error“, Vorläufigkeit, Nichtabgeschlossenheit;
Besser‐Machen (ohne auf das einzige wahre Optimum zu warten) brachte den Westen
nach vorn, nicht „Ornament ist Verbrechen“, wie Bauer Adolf Loos falsch zitiert <dessen Manifest heißt Ornament UND Verbrechen>
sonst hätte es unter Wilhelm II keinen Fortschritt bei der Stahlproduktion gegeben, sondern erst in den 1920er Jahren.
Was Bauer hier schreibt entspringt nicht eigenem Studium oder eigenem Denken,
sondern stammt von Herren, die vor allem Frankreich studiert haben. Hass auf
Andersdenkende (Bartholomäusnacht und Henri IVs Ermordung) sind aber nicht
Bedingung für Meter, Gramm, Liter und Nullmeridian. Nicht Louis' Vertreibung der
Hugenotten (Edikt von Nantes) sondern Colberts Schiffskanäle und die Abschaffung
der Binnenzölle steigerten Frankreichs Bruttosozialprodukt. In Deutschland brachten
Zollunion, Mittellandkanal, Reichsmark, und MEZ Produktionszuwachs auch ohne
konfessionelle Homogenisierung und Zentralisation. Nicht die „Preußische Union“
von Lutheranern und Calvinisten machte Preußen reich und „modern“ sondern die
katholischen Kohle an Ruhr, Saar und in Schlesien. Bauer muss ja nicht historischer
Materialist werden, aber sein Überbaugedusel ist schon sehr idealistisch.
Wenn er schreibt, dass die „Ökonomie besonders ambiguitätsintolerant“ (58) sei,
dann hat er sich nichts dabei gedacht. Nach meinem Verständnis ist es genau umgekehrt:
der Markt lebt davon, dass Samsung und Apple, Windows und MacOS, BMW
und Daimler nebeneinander existieren und nicht einer einzig recht hat. Nimmt man
den Wettbewerb von FAZ und Süddeutscher, von Grünen und Piraten dazu, sieht
man, dass „der Westen“ doch nicht so rigide und unflexibel ist, wie Bauer ihn darstellt.
Erst kurz vor Schluss räumt er ein, dass „polyphone Musik, ... Opern ... und
Demokratie“ Leistungen des Westens seien, die nicht „klar und eindeutig“ seien;
doch seien Erstere marginal und die Demokratie „von Hekatomben von Opfern gesäumt“ (403).
Ich vermute, dass sich auf diesen Seiten Diskussionen mit Menschen
niedergeschlagen haben, die mehr vom Westen verstehen als Bauer, dass er mit
diesem Eingeständnis aber schon die Grenze seiner Einsicht in Positives am Westen
erreicht hat. Meiner Ansicht nach wäre das Buch viel besser, wenn es mehr hätte von
Dingen, die Bauer gut kennt, und weniger über den Westen.
Außerdem meint er mit Demokratie wohl nicht "Herrschaft des Volkes/ Herrschaft
der Mehrheit/ volonté genérale", sondern "Pluralität, Wettkampf der Meinungen, Schutz
von Minderheiten" – sonst macht es keinen Sinn.
Und wieso spricht er von Polyphonie statt von Bi-Phonie? Er sagt ja auch Bi-Guität, obwohl er Viel-Deutigkeit meint? mmh.
Bauer schreibt immer wieder von den vier Rechtsschulen, obwohl er andere als die
vier erwähnt, u.a die von Abu Thaur (171); dabei passiert ihm ein Fehler: er spricht
von „dem Ẓāhiriten Abu Dāwūd“ (170). Erstens heißt der Mann D., nicht Abū D.,
zweitens ist das der Gründer der Schule, die deshalb auch Dāwūdīya heißt. Bei zehn
nebeneinander existierenden Schulen von Zweideutigkeit zu sprechen, scheint mir
so schief wie bei 28 Koranlesarten. Bauer meint mit „ambi“ gar nicht „ambi“
sondern „pluri“ oder „poly“; warum sagt er nicht, was er meint?
Qirāʾāt
Gleichzeitig spricht man auch bei einer einzelnen Textstelle,
die in verschiedenen Versionen unterschiedlich lautet, von einer qirāʾa.
Bauer: Kultur der Abiguität. S. 62
Das stimmt nicht: nicht die Text‐stelle nennt man qirāʾa, sondern ihre Varianten nennt man qirāʾāt.
Für einen Deutschen ist die Sache eigentlich ganz einfach: sowohl eine festgelegte Lesung
des ganzen Koran nennt man „Lesart“, wie die einer Stelle. Nur weil im Englischen bei der Stelle
von „variant“ und beim ganzen Koran von „reading“ geredet wird, kommt Bauer
durcheinander. Der Vollständigkeit halber: qirāʾa hat nóch eine Bedeutung: Lesung/
Rezitation/ Verklanglichung, also die Aktualisierung des Textes (performance).
das Bewusstsein von der Pluralität der qirā´āt hat durch
die Einführung des Buchdrucks einen schweren Schlag erlitten.
Im Jahre 1344/1925 wurde in Kairo der Koran in der Lesung »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim« gedruckt.
Diese Ausgabe hat sich rasch in der gesamten islamischen Welt durchgesetzt.“ (95)
„Der historische Zufall, daß sich die »Ḥafṣ ʿan ʿĀṣim«‐Lesung im Gefolge des Osmanischen Reiches weithin
ausgebreitet hat und schließlich dank des Buchdrucks in der Praxis eine Monopolstellung erlangte, ... (108)
Nichts davon ist richtig:
Der Buchdruck hat das Bewußtsein der Lesungen gestärkt.
Die Ausgabe von 1342/1924 (!) hat sich nie und nimmer "in der gesamten islamischen Welt durchgesetzt":
1.) Selbst in Ägypten, wo sich die neue Orthographie dank staatlichen Drucks durchsetzte, war die Ausgabe der
Amīriyya immer eine Seltenheit. Vor zehn Jahren lagen davon noch unverkäufliche Exemplare in den Buchläden.
Ausgaben auf 522 Seiten verkauften sich besser: erst die von Muṣṭafā Naẓīf Qadirġalī, nach 1975 die von Muḥammd
Saʿd Ibrāhīm al-Ḥaddād geschriebene, nach 1976 auch der ganz schlicht gesetzte Muṣḥaf al-Azhār aš-Šarīf,
heute wieder al-Ḥaddād/Šamarlī sowie ʿUṭmān Ṭāhā auf 604 Seiten (UT).
Zweitens hat erst in den 1980ern die UT die Orthographie der Ausgabe von 1952 im Mašriq durchgesezt ‒ spät und allmählich,
Drittens nur in Ostarabien, weder in Persien, noch in Marokko, weder in der Türkei (oder bei den Türken
in Deutschland), noch bei der größten Gruppe der Muslime, den Indern, Pakistani, Bengalen und Indonesiern.
Es ist auch kein historischer Zufall, dass das osmanische Reich und das timuridische Moghulreich die ḥanafitische/kufische Rechtsschule annahmen,
weil diese Reiche (für das osmanische zumindest über lange Zeit) nur eine Minderheit von sunnitischen Einwohnern hatten und deshalb die Rechtsschule wählen mussten,
die die Andersgläubigen am wenigsten diskriminiert. Und so wie die Mālikiten letztlich eine Lesung
aus Medina bevorzugen, so die Ḥanafiten eine aus Kufa. Ob das entscheidend war
oder die Tatsache, dass ʿĀṣims Lesung näher an der Standardaussprache des Arabischen
ist als andere Lesungen, dass man also auf weniger Widersprüche zwischen
den Grammatik‐Büchern und den Koran‐Vortragsbüchern stößt, und deshalb gerade
Türken, Moghulen, Perser, Inder und Indonesier sich für die leichteste Lesung
entschieden, kann offen bleiben.
Nebenbei: Bevor die „Marokkaner“ die Lesung nach Warsch von den „Tunesiern“
übernahmen, hatten sie nach Hamzah aus Kufa gelesen. Auch diese
inner‐maghrebinische Vereinheitlichung hat nichts mit dem Buchdruck zu tun.
Es ist aber nicht bloßer Zufall und der Buchdruck tat wenig zum Zurückdrängen der
anderen Lesarten. Bauer müsste nachweisen, dass vor 1830 (dem Beginn des Drucks
von Koranen in der islamischen Welt) der ʿĀṣim‐Anteil geringer war als danach, und
nach 1925 nochmal größer als davor.
Was man leicht zeigen kann, ist, dass CD, DVD, Internet, Apps und Buchdruck in den
letzten 50 Jahren mehr zur Verbreitung von anderen Lesarten
als Ḥafṣ nach ʿĀṣim getan haben als alle Religionsschulen in den 1000 Jahren davor.
Die Kultur der Ambiguität, das Buch ...
... ist ein Märchenbuch, voller Lügen, schwarz-weiß statt "ja-aber"-grau.
Obwohl es laut Untertitel "Eine andere Geschichte des Islams" ist, geht es in ihm gar
nicht um den Islam, sondern nur um zwei Varianten, zwei von hundert:
— um den städtischen, sunnitischen Gelehrtenislam Ostarabiens (Ägyptens, Syriens, des Irāqs),
nicht des frühen, sich erst bildenden Islam, sondern um den "postformativen", "vorkolonialen",
— den "postkolonialen", die Antwort auf das Vordringen Europas, also insbesondere den Wahhabismus.
Doch die meisten Deutschen wissen so wenig über Islam, dass sie daraus viel lernen können:
1) Der Nahe Osten war weder rein islamisch, noch durch und durch religiös. Die Herrscher
waren nicht Befehlsempfänger religiöser Würdenträger; Kunst und Wissenschaft waren keine Anhängsel der Religion.
2) Der mittelalterliche Islam war nicht dogmatisch, unduldsam und prüde.
Er hat weder ethnische Säuberungen organisiert noch religiöse Minderheiten vernichtet.
— Islamismus ist keine Rückkehr zum traditionellen Islam, sondern ein Versuch, den Westen mit dessen Methoden zu schlagen.
In Kapiteln über Koran, Hadith und Recht zeigt Bauer, dass Gottes Buch, das Beispiel des Gesandten und Gottes
Regeln zwar absolute Geltung beanspruchen, aber niemand wissen kann, was Gott gemeint hat und welche
"Gesandtensprüche" wirklich von ihm stammen,
deshalb die Schariʿa gar nicht angewendet werden kann.
Kernthese über den westlichen Menschen
Ambig Bauers Kernthese: «Eine beträchtliche Angst vor ihrem eigenen Körper
begleitet die Menschen des Westens seit Jahrhunderten. ... [Die daraus resultierenden]
ambivalenten Gefühle [können] zu starker Ambiguitätsintoleranz führen.» Durch Imitation
des Westens sinke seit 200 Jahren im Nahen Osten die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. ‒
Während also im Westen der Leib den Unterbau für Kultur und Mentalität bilde,
gestalte im Nahen Osten westliche Diskurshegemonie diese um.
Thomas Ambig Bauer ist Philologe; wenn er arabische Texte referiert,
ist er gut, wenn es um Gesellschaft und Wirtschaft geht, ist er schlecht. Er schreibt: Juden und Christen fand man in allen Dörfern, ihnen standen außer dem Militär alle Berufe offen. Ersteres stimmt nicht und Letzteres ist nicht nur Berufsverbot, sondern elementare Entrechtung: Juden und Christen durften keine Waffen tragen, waren wie Frauen und Kinder schutzbedürftig. Ich glaube auch nicht, dass sie Qadi oder Muezzin werden konnten. De facto waren sie auf wenige Berufe beschränkt, etwa Seifensieder, Silberschmiede, Musiker, Hausierer, Photographen, Steuereintreiber. Von ethnischer Arbeitsteilung hat Bauer nie gehört. Immerhin kommt «Arbeitsteilung» vor, doch damit meint er nicht Spezialisierung in Handwerk, Handel, Landwirtschaft, sondern «Arbeitsteilung» zwischen Juristen, Sufis, Theologen, Hadithexperten.
Er schaut durch die rosarote Brille wenn er von Entdeckungsreisen in Afrika schwärmt, aber die Sklavenjagden nicht erwähnt. Statt dessen: «Die soziale Mobilität war geradezu schrankenlos ... Im Nahen Osten konnte man tatsächlich vom Sklaven zum Fürsten werden.»
Es war aber nicht so, dass erst ein Bäcker Herrscher war, sein Nachfolger ein Dichter, darauf ein Sklave folgte, der von einem Stammeskrieger abgelöst wurde. Meist herrschten Geschlechter. Auch die 500-jährige Militärdiktatur, die Ägypten regierte, heißt in den arabischen Quellen «Dynastie/daula»; in der Zeit waren alle Herrscher Ex-Sklaven, aber niemals Küchen-, Harems- oder Plantagensklave, sondern ausschließlich Generäle. Nur Sklaven des Sultans oder eines hohen Beys konnten Sultan werden.
Das Verhältnis der Sklaven zu ihren Händlern war weit besser als das der heutigen Wirtschaftsflüchtlingen zu ihren Schleppern.
Eltern verkauften Kinder, damit diese es besser hätten;
sogar freie Jungs versuchten, als Sklaven in die Rekrutenanstalten zu gelangen.
Was die Sexualität betrifft zeichnet Bauer folgendes Bild:
Mit Sex ging man «locker und ungezwungen» um, Verbote waren rein theoretisch.
In tausend Jahren wurde niemand wegen einvernehmlichem Sex zwischen Männern verurteilt.
«In der islamischen Sexualethik wird Sex als etwas uneingeschränkt Positives gesehen.
Der Geschlechtsverkehr diene, so al-Ghazäli, erstens dazu dem Menschen einen positiven
Vorgeschmack auf das Paradies zu geben, und zweitens, für den Fortbestand des Menschengeschlechts
zu sorgen — man beachte die Reihenfolge!»
Nun, leider ist das falsch, sogar die Reihenfolge;
in der Iḥyāʾ ʿUlum ad-Dīn (al-Ghazālīs Hauptwerk)
kommen weder «Geschlechtsverkehr» noch «Menschen» vor;
es geht um «Männer» und «das Bestellen/al-ḥirāṯa» (d.h. Pflügen und Besamen) der Ehefrauen.
Statt «Fortbestand des Menschengeschlechts» steht im Original «Söhne»
und dort geht es auch darum, durch Koitus die muslimische Gemeinde zu vergrößern.
Die Lust stellt al-Ghazāli als ein Werkzeug des Satans vor und als Trick Gottes:
Der Mann bekommt einen Vorgeschmack auf Paradiesfreuden, unterwirft sich deshalb völlig,
um in den Himmel zu kommen. Al-Ghazāli gelingt es sogar trotz des Vorbilds des Gesandten,
der bekanntlich kleine Mädchen, Frauen und Witwen heiratete, alles andere als
ein «uneingeschränkt positives» Urteil abzugeben: Nur in den ersten 200 Jahren
des Islam seien die Frauen züchtig und tüchtig gewesen, heute sei das anders.
Ganz wie Paulus stellt al-Ghazāli die Ehelosigkeit über die Ehe.
Ambig Bauers Behauptung, dass das Verbot gegen Sex außerhalb von Ehe und Konkubinat «gültig
und nicht gültig» sei, dass diese «Gesetze undurchführbar» seien und
dass man mit ihnen «lax umgegangen» sei, ist Unsinn. Er selbst gibt an,
dass im Gesetz selbst hohe Beweishürden errichtet wurden.
Das Verbot war absolut gültig, doch der Vollzug der Strafe war fast nur bei einem Geständnis möglich. Wenn er aber meint,
dann sei das Gesetz «irrelevant», zeigt er, dass er nichts kapiert hat.
Es ist ja nicht nur so, dass wir wenig über Verurteilungen wegen «einvernehmlichen Sex zwischen Männern» wissen,
— wir wissen überhaupt nichts darüber —
im Gegensatz zu Vergewaltigungen. Es gab entweder keinen einvernehmlichen Sex zwischen Männern
oder man hielt es geheim, weil man sich schämte und Angst hatte.
«Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt durch sein
Leugnen die Gültigkeit des Verbots; solch deviantes Verhalten wird toleriert.
Wer sich non-konformistisch verhält, sich also um ein Verbot einfach nicht kümmert,
es für sich außer Kraft setzt, ohne seine allgemeine Gültigkeit anzugreifen,
wird in Frieden gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine
Gültigkeit bestreitet, muss zur Raison gebracht werden. Denn der ist ein Ungläubiger,
der etwas erlaubt, was in der Religion des Propheten
verboten ist» (A. Schmitt: Liwat)
«Im vorkolonialen Nahen Osten war es selbstverständlich,
dass schöne junge Männer begehrenswert sind».
Belege dafür gibt es nicht. In den Tausenden von Liebesgedichten
in denen es nicht ausdrücklich um Frauen geht,
wird nie männliche Schönheit besungen, nie Waschbrettbauch,
kantiges Kinn, ... statt dessen weite Hüfte,
Wackelarsch, trippelnder Gang, Babyspeck ... Auch, wo mit dem Maskulin
keine Frau gemeint ist, was die arabische
Grammatik erlaubt, geht es nie um Virilität; die Dichter wollten
den Knaben kokett und unterwürfig, zart und
gefügig. Mit Homo-Erotik, also mit Begehren eines Gleichen, hat das nichts zu tun.
Thomas Bauer behauptet, in den «Bartwuchsepigrammen» ginge es um
kräftige Bärte; es ist aber immer von zartem Flaum die Rede. Das Wort, dass die Dichter
benutzen /ʿiḏār/ bedeutet Pfirsisch-Flaum, Zurückhaltung, Sittsamkeit, Keuschheit, Jungmännlichkeit,
Koketterie, Unschuld, Verschämtheit, Scheue, Zurückhaltung, Wangenbart, Entschuldigung – in
besagten Gedichten das Gegenteil von einem männlichen Bart.
Th. Bauer behauptet,
der Bart werde in Kauf genommen, weil der «Jüngling ... noch immer süß» sei.
Da steht aber, dass er noch immer Schönes gewähre, nämlich dass er sich penetrieren lässt.
Im nächste Gedicht werde «der Bartwuchs als etwas rundum Positives dargestellt»:
"Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, der zieht nicht fort, wenn Frühlingsblumen sprießen."
Es geht aber nicht darum, dass die Gegend jetzt rundum schön und damit auch der Bart schön sei.
Vielmehr sagt der Dichter: Wer in einen unbehaarten Anus reingelassen wurde,
verzichtet auf derlei Freuden nicht wegen zarter Frühlingshärchen, die jetzt rund um den Anus sprießen.
Merkwürdig auch Bauers «Fortleben»-Behauptung. Gewöhnlich nimmt man an, dass die Muslime nur die
nützliche Literatur der Griechen rezipierten: Medizin, Philosophie,
Mathematik und Astrologie, dass sie aber von Homer, Sophokles und
Sappho gar keine Kunde hatten. Bauer schreibt, mit den letzten Flaumgedichten ende eine
«zweitausendjährige Tradition, denn es ist schwer vorzustellen, dass das arabische apologetische
Bartwuchsepigramm nicht die Tradition seiner antiken Vorläufer fortsetzt.»
Im Gegenteil: Ohne Informationen über Griechisch-Kenntnisse bei arabischen Dichter und
Manuskripten mit griechischer Lyrik im Besitz islamischer Gelehrter kann ich mir Bauers «Fortsetzung» nicht vorstellen.
Insgesamt malt er ein rosiges Bild vom vorkolonialen Nahen Osten, in dem Sklaven zu Prinzen wurden, und
Päderasten ihrer Lust frönen konnten ‒ Frauen und Penetrierte kommen aber nicht zu Wort.
Gewiss, «bei uns» kann man nicht nur durch Tat und Wort sündigen, sondern schon in Gedanken, aber
dass «der Islam» einfach nur sinnenfroh gewesen sei bis die Kolonialherren ihn verdarben,
stimmt nicht. Auch Muslime sprachen von dunklen Trieben, und wenn «im Islam» das Begehren des
Mannes weniger verteufelt wurde als «bei uns», so verteufelten Muslime die Frau umso mehr.
Und bei der Verteufelung der Frauen zieht sogar manch lockerer Sufi mit strengen
Hambaliten an einem Strick.
Die Idee, dass die Verachtung der Penetrierten, mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft
zu tun hat, kommt Bauer nicht.
Bei Ambig Bauer kriegen alle Reaktionen auf die Moderne ihr Fett ab; bei ihren jeweiligen Ahnen
ist er jedoch parteiisch: Während die «Helden» der Reformer, die «rationalistischen»
Mu'taziliten als dogmatisch und rigoros getadelt werden, schimpft er mit ihren ‒ genauso
dogmatischen und rigorosen ‒ Gegnern, den Hambaliten, nicht. (Übrigens besteht
die «Rigorosität» der Mu'taziliten darin, dass bei ihnen auch Muslime, wenn
sie schwer sündigen und nicht bereuen, in die Hölle kommen und nicht nur Juden,
Christen und Heiden.) Das gehört zu Bauers Strategie, den frühen Islam ‒ in dem Theologie noch
diskutiert wurde ‒ und den späten ‒ die Antworten auf die Kolonisatoren
‒ gegenüber dem dazwischen ‒ in dem das Dogma unhinterfragt war ‒ runterzumachen.
Eigenartig, dass Bauer zu dem Thema die Arbeiten von Fachleuten völlig unerwähnt lässt,
(Khaled el-Rouayheb, Before Homosexuality in the Arab-Islamic World 1500- 1800 und Dror Ze'ev,
Producing Desire. Changing Sexual Discourse in the Ottoman Middle East),
die das Gebiet genauer erforscht haben als Bauer; auch die Arbeiten von
Everett K. Rowson und Frederic Lagrange bleiben unerwähnt.
eine Mentalitätsgeschichte?
Ob er wirklich eine Mentalitätsgeschichte des Nahen
Osten vom 10. bis zum 19. Jahrhundert geschrieben hat, wie er glaubt, weiß ich nicht.
Ich bin mir nicht so sicher, ob man von den Abhandlungen der städtischen
Gelehrten auf die Mentalität der Bauern schließen kann – so wenig wie man von
William von Ockhams Schriften auf die seelische Verfassung bayrischer Bauern, und
von denen eines Erasmus auf die von Rheinschiffern schließen kann.
schlicht falsch
Wenn ich kritisiere, dass Bauer sich seinen Islam zurechtlegt, indem er fast alle Islame
ignoriert – sowohl im Sinne von „nicht kennt“ wie im Sinne von „übergeht = dem
Leser vorenthält“, dann geht es nicht nur um Faulheit. Bauer tut so, als sei der Muslim
vor der Ansteckung durch das moderne Europa gar nicht in der Lage gewesen, Eindeutigkeit zu verlangen.
Zu solchen Ausführungen über den Koran, wie sie saʿudische Gelehrte heute produzieren, sei der von Europa
noch nicht verdorbene Muslim nicht in der Lage gewesen, für diesen sei Vieldeutigkeit geradezu
eine Notwendigkeit gewesen. Nun schreibt Aḥmad b. Muḥammad as‐Saiyārī im Kitāb al‐qirāʾāt
über den Koran: bal huwa ḥarf wāḥid min ʿindi wāḥid nazala bihi malak wāḥid ʿalā nabī
wāḥid (er hat éine Lesart, kommt von Einem, ist éinem Propheten durch éinen Engel
geoffenbart); Saiyārī lebte aber tausend Jahre vor der Bauerschen Verschwörung des
Westens, den Islam auf Linie zu bringen.
Die Belege, die Bauer von seinen Gelehrten bringt, sind höchst aufschlussreich; mit
dem (vormodernen) Islam darf man sie aber nicht verwechseln.
Islamisierung des Islam
Seitenlang wütet Bauer – zu Recht – gegen die „Islamisierung des Islam“, was
zweierlei meint: einmal, dass man die islamische Religion theologisiert, sie paralleler
zum Christentum macht als sie ist, spielt doch in ihr das Dogma eine weniger
wichtige Rolle, zum andern, dass man die Gesellschaft religiöser macht als sie ist.
Und in diesem Zusammenhang schimpft er gegen die Dummheit, „Islam“ und
„islamistisch“ zu benutzen, wo die Religion gar nicht gemeint ist. Er selbst macht
dies leider auch immer wieder – nicht nur im Titel des Buches. Ich selbst behelfe
mich damit, dass ich „muslimisch“ eher für religiöse Aspekte nehme und „islamisch“ für die Zivilisation benutze.
Er zetert über Islamexperten, die gar nicht über die Religion reden sondern über alles Mögliche im nahen Osten,
ohne zu erwähnen, dass das einer Binnensicht entspricht: Die Muslime nennen die
gesamte von Muslimen beherrschte Welt das „Haus des Islam“; wenn etwas davon
an die Fehlgläubigen verloren geht, sind sie gekränkt und in ihrem Haus ist ein
christlicher Präsident unvorstellbar. Bauer übersieht auch, dass Religion nicht nur
Dogma, persönlicher Glaube, offizieller Ritus, Zauberei/Hexerei, Versenkung und
Verzückung ist, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Egal wie unfromm
einer ist, wenn er Alawit, Jude, Druse, Christ ist, wird er im Dār al‐Islām anders
behandelt als ein Rechtgläubiger – und (deshalb?) handelt er auch anders.
Bauer kämpft gern gegen Pappkameraden: Er tut so, als hielten die Orientalisten die
Medizin des Nahen Ostens für religiöse Medizin, obwohl sie doch völlig unreligiös
sei, nämlich die alte hippokratisch‐galenische. Acht Seiten später
– wenn von Medizin nicht mehr die Rede ist – schreibt er, dass im vorkolonialen Nahen Osten „auf
allem ein religiöser Feinstaub“ (201) liege. Es gebe Religion gar nicht als eine eigene
Sphäre, alles sei irgendwie religiös. Hätte er das eingangs eingeräumt, hätte er sich
viel Schaum vorm Mund sparen können. So gibt es auch gar nicht die von ihm behauptete
harte Trennung (195: wenig Ambiguitätstoleranz) zwischen „griechischer“
und „prophetischer“ Medizin. Auch die muslimischen Praktiker der griechischen
Medizin haben keinen Aderlass gemacht, ohne die Basmala zu murmeln;
auch sie haben ihr Behandlungszimmer mit Kalligraphien der āyāt aš‐šifāʾ geschmückt.
Und wenn man sich die Bücher der prophetischen Medizin anschaut, so gibt es –
besonders bei Ḥambaliten – welche mit viel Hildegardmedizin (Bauers Analogie) aber auch
solche, die außer ein paar frommen Sprüchen die übliche Lehre und Heilmethoden
bringen. Die Trennung von weltlicher und religiöser Medizin war so streng nicht.
Kapitelendnoten
Für den Leser, der Bauers Gedankengänge nachvollziehen will, ist das Buch eine
Unverschämtheit. Der Autor schreibt: „Der Leser sei versichert, daß Anmerkungen
auf nichts verweisen als auf Quellen‐ und Literaturangaben ... Ihm entgeht also
nichts inhaltlich Wichtiges, wenn er eine entspannte Lektüre permanentem Nachschlagen vorzieht.“ (25)
Oft bieten die Kapitelendnote keine Primärquelle für die
Behauptung, sondern irgendeinen Feuilletonisten, der Bauers Meinung schon früher
vertreten hat. Ob man dort Quellen findet, weiß man nicht. Bei arabischen Texten
gibt Bauer die Seite nach einer beliebigen Ausgabe an. Würde er zusätzlich kitāb, bāb, faṣl angeben,
könnte man die Stelle in jeder Ausgabe finden. Noch praktischer wäre
ein Originalzitat. Aber weil fürs große Publikum geschrieben, verzichtet Bauer auf
die Nachvollziehbarkeit. Ich kann nicht glauben, dass Fußnoten einen so großen
Abschreckungseffekt haben. Dann könnte man ja auch gleich auf diakritische Punkte
in der Umschrift verzichten.
Und Bauer hält sich nicht mal an seine Versicherung. Der folgende Satz ist doch wohl
weder eine Quellen‐ noch eine Literaturangabe:
„Die Begriffe »Homosexualität«
(Erstbeleg 1869) und »Heterosexualität« (Erstbeleg 1880) gehen auf Karl Maria Kertbeny
(1834‐1882) zurück“ (421)
Das ist (selbstverständlich) falsch und zeigt, dass
Bauer jeden Unsinn glaubt. In der deutschen Wikipedia ist sowohl
unter „homosexuell“ wie unter „Karl Maria Kertbeny“ der Erstbeleg für beide Begriffe abgebildet.
„Natürlich“ hat Kertbeny sich die Begriffe gleichzeitig ausgedacht.
A propos „gleichzeitig“: Im Theoriekapitel schreibt Bauer, dass wenn „in einer Stadt“
zur gleichen Zeit eine „Bevölkerungsgruppe“ eher zum Heiler geht und eine andere
zum Mediziner, dann sei das nicht „gleichzeitig“ – „gleichzeitig“ sei nur, wenn die
gleichen Menschen beide Heilmethoden akzeptieren. Abgesehen davon, dass dann
viele seiner Beispiele aus dem nahöstlichen Bürgertum seine Grundthese gar nicht
stützen, denn sehr viele Ḥambaliten akzeptierten weder Schiiten noch Sufis,
finde ich Definitionen, die dem Grundsinn des Wortes widersprechen,
nicht Erkenntnis fördernd.
Lust
Weil das Buch sich an das große Publikum wendet, greift Bauer oft Kollegen an,
ohne deren Namen zu nennen, oder er schreibt von anderen ab, ohne irgendwie
anzudeuten, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen ist.
Zum Komplex mann‐männliche Sexualität und Erotik erwähnt er nur Massad und Klauda,
von denen einer gar keine Quellen studiert haben kann, weil er kein Arabisch kann.
Dass Everett K. Rowson und Arno Schmitt seit über zwanzig Jahren Grundlegedes dazu geschrieben haben,
bleibt genauso unerwähnt wie die Arbeiten von Frédéric Lagrange, Dror Ze’evi und Khaled el‐Rouayheb;
letztgenannter hat viel genauer erklärt, wieso verschiedenartige Diskurse zu dem,
was wir als éine Sphäre ansehen auf arabisch nebeneinander existieren.
Bemerkenswert auch, dass Bauer, den Hauptgedanken der von ihm erwähnten Bücher
nicht versteht: Dass es nämlich im „vorkolonialen“ Denken und Schreiben der Araber
weder den Begriff noch das Wort „Homosexualität“ gibt, dass also bei ihnen der
Bereich des Lebens, den wir heute als „Sexualität“ bezeichnen, anders strukturiert
war.
Massad Public Culture 14(2): 383f.:
Durch ihr Gerede über Homosexuelle, wo es bis dahin
keine Homosexuellen gegeben hat, heterosexualisiert die Schwule
Internationale (Amnesty International und schwule Menschenrechtsorganisationen) eine Welt,
die bis dahin von Homosexuellen und Heterosexuellen nichts wusste. Die Wirkung ist in der
muslimisch‐arabischen Kultur alles andere als befreiend: Männer,
die bei mann‐männlichem Sex als passiv oder aufnehmend gelten, werden gezwungen, ... sich als
homosexuell oder schwul zu identifizieren, und die eindringenden Männer müssen sich
auf éine Art von Objekten, Männer oder Frauen beschränken. So werden aus ihnen
Heterosexuelle, weil sie sonst in den Begriffen, die ihnen die Schwule Internationale
einzig lassen, zu Anormalen werden, mit allen Nachteilen, die das bedeutet..
– Während im modernen westlichen Denken ein Mann einen
Mann lieben kann, die miteinander Sex machen, kann im traditionellen, mediterranen,
patriarchalischen Denken ein Mann nur mit einem Nicht‐Mann (Tunte, Transvestit, Knabe,
Mädchen, Frau) Sex machen (die Unzahl von Verben sind alle transitiv:
schlagen, besteigen, reiten, ficken…).
Für zāniya benutzt Bauer das deutsche „Ehebrecherin“ (282), obwohl weder die zāniya
noch ihr Partner verheiratet sein müssen, demzufolge keine Ehe brechen – und aus
dem Text, wie Bauer ihn uns vorstellt – geht auch nicht hervor, dass die zāniya eine
Ehebrecherin gewesen sei. Zugegeben: „Geschlechtsverkehr mit einer Person, mit der
man dazu nicht das Recht hat“ ist deutlich länger und holpriger als „Ehebruch“ aber
wenn man genau sein will, darf man nicht schlampen.
Bauer bringt das Kunststück fertig, Sexualität als kulturelles Konstrukt aufzufassen
(„es ist keineswegs selbstverständlich, alle Handlungen und Emotionen, die direkt
oder indirekt mit den Geschlechtsorganen verbunden sind, auch untereinader verbunden
sind und ein eigener Bereich der menschlichen Persönlichkeit“ bilden), aber
Homosexualität als kulturübergreifend darzustellen. Das erreicht er dadurch, dass er
zwanzig Mal von einvernehmlichem Sex zwischen Männern spricht, auch von
Liebe zu einem Jüngling, obwohl wir doch für den Nahen Osten nur von
Vergewaltigungen und Päderastie Kenntnisse haben. Dass Sexualität im Westen als „isoliert von
den übrigen Gefühls‐ und Handlungsbereichen“ und „streng getrennt“ (273) angesehen wird, kann ich nicht finden.
Noch seltsamer erscheint mir, dass nach Bauer „der Westen“ die Sexualität bewusst geschaffen habe,
er spricht nämlich von dem „Projekt [des Westens], eine von allen Bereichen menschlichen Erlebens geschiedene
Sphäre der »Sexualität« zu etablieren“ (274). Richtig ist, dass man ein Kraulen der Brusthaare
und eine Vergewaltigung zwecks Erniedrigung nicht in einen Topf werfen muss,
aber komisch finde ich, dass Bauer nur zwischen Sexualität und Liebe zu unterscheiden weiß;
nicht mal zwischen „jemanden für begehrenswert halten“ und „jmd. begehren“ macht er einen Unterschied.
Gewiss, um 1965 macht sich ein Mann in der BRD schon verdächtig, wenn er die Schönheit eines Jünglings
oder Mannes bemerkte, aber dies ist noch lange kein Begehren oder – was für Bauer das Gleiche ist –
sich in einen Jüngling oder Mann Verlieben. Diese Blindheit für Aspekte und Grade der Liebe ist umso bemerkenswerter,
als Muslime darüber umfangreiche Bücher verfassten.
Da es Bauer nur darum geht, herauszuarbeiten, dass der Westen den Nahen Osten
moralisch verdorben habe, interessiert ihn nicht, ob es zwischen den Liebestheorien
der islamischen Gelehrten und der westlichen Denker bezeichnende Unterschiede
gibt. Ich jedenfalls halte es für signifikant, dass im Nahen Osten einseitig
gedacht wird (ich liebe x, ich begehre x, ich umwerbe x, ich ficke x), im Westen gegenseitig
(ich will, dass x mich begehrt, ich sehne mich danach, von x wahrgenommen zu
werden, ich will mit x ficken). In der reifen, westlichen Liebe oszillieren die
Rollenzuschreibungen, da liebt man/frau nicht nur ein Objekt, sondern man identifiziert
sich zweitweise mit Anteilen des Andern, man ist (wenigstens phasenweise) aktiv
und passiv. Als historischer Materialist bin ich der Ansicht, dass diese Art Liebe zu
denken erst entsteht, wenn Frauen auch im Betrieb und der Politik Chef sein können.
Ich habe in meiner Besprechung in inamo darauf hingewiesen, dass Bauers Kronzeuge
für sinnenfrohen Sex, der Imām Ghazālī, genau wie Paulus die Askese über die Ehe stellt;
Ibn Qaiyim al‐Ġauziya weist eine andere Parallele mit dem Gründer des Christentums auf:
Arschficken als Ursache und Folge des Abfalls vom Glauben. Wer Islam und Christentum
vergleicht, sollte beides studiert haben; nach meinem Eindruck hat Bauer das eine
gar nicht und das andere recht selektiv studiert. Er hat bei diesem Teilstudium vieles
entdeckt. Leider schreibt er auch über die Bereiche, die er nicht studiert hat.
„Kapitalistisches Konkurrenzdenken (kKD) und einfühlsame Freundschaften sind
aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (275)
Mit keinen Wort erklärt Bauer warum gerade das kapitalistische KD mit Freundschaft schlecht zusammen geht
oder auch nur wodurch sich kKD von anderem KD unterscheidet. Vorher schreibt er,
dass der Araber „als »agonaler Mensch« charakterisiert werden [muß]. Neben den
bewafneten Kampf der Sippen und Stämme trat der Wettkampf in der Jagd, im
Wettrennen und im Wettschießen. Noch wichtiger war der aber Wettkampf der
Dichter“ (254). Der Araber ist also laut Bauer von Kampfdenken durchdrungen.
Warum verträgt sich arabisches KD mit Freundschaft, aber nicht kKD?
Bauers Behauptung der Bürger habe die Homosexualität erfunden, um als ganz und
gar heterosexuell dazustehen (276), leuchtet mir nicht ein; ich gehe davon aus, dass
es in der fraglichen Zeit (grob 1850‐1950) im Bürgertum mehr Homosexuelle gab als
in der Arbeiterklasse. Schön auch die Behauptung, dass im 19. Jahrhundert Kapitalismus,
Kolonialismus und Psychoanlayse „triumphierten“ (276), obwohl letztgenannte
erst im 20. Jhd. entstand. Und dann kommt eine Formulierung,
die „die amerikanische Forscher“ der Stammtische lässig toppt: „Es ist mittlerweile gut nachgewiesen,
daß die europäische Konstruktion der Sexualität mit dem Imperialismus in einem
innigen Wechselverhältnis steht.“ (277) – sorry, „innig“ habe ich reingeschmuggelt,
aber sonst ist es doch eine Leeraussage; steht nicht alles mit
jedem in einem Verhältnis? „Die Macht des Westens griff nun auf jene fernen, exotischen Welten zu, ... wo
ein Sex blühte, der die westlichen Ordnungen des Sexes gefährlich ins Wanken
brachte.“ (277) Der Imperialismus schafft also Imperien, um die westliche Ordnung
des Sexes vor dem Umfall zu schützen. Da sehe ich noch andere Interessen.
Bauer spricht von „Ambiguitätsdimension“ von Sex bzw. Liebe (278), wo er nach
seiner eigenen Definition von Ambivalenz sprechen müsste (38, passim).
„Die wichtigste Ursache für Ambiguität ist die Pluralität der Diskurse“ (268f.)
Entweder habe ich Bauer überhaupt nicht verstanden, oder das stimmt so nicht.
Gewiss, verglichen mit heutigen Salafisten waren die Denker des klassischen Islam
Rheinländer. So wie katholische Bischöfe am Niederrhein den Kohlenklau für den
Eigenbedarf freigaben und den Gläubigen erlauben,
gegenüber den Ämtern (Jobcentern) falsche Angaben zu machen,
solange Freibeträge und Regelsätze zu niedrig
sind, so galt auch in muslimisch geprägten Nahen Osten „leben und leben lassen“,
„Fünfe gerade sein lassen“ und „beide Hühneraugen zudrücken“. Oder anders gesagt:
Wie der Rheinländer und der italienische Südländer, wusste auch der Levantiner,
dass das Gesetz „auf dem Papier steht“, „das Leben aber das Leben“ ist. Aus diesem
Blickwinkel ist der von Bauer konstatierte Abgrund zwischen Köln und Kairo gar
nicht so tief und nicht so weit.
Merkwürdig auch, dass Bauer die Spannung zwischen zwei wichtigen Grundsätzen
völlig übergeht. In tausenden von Büchern stößt
man auf al‐ʾamr bi’l maʿarūf wa an‐nahy ʿan al‐munkar (das Gute befehlen und vom Bösen abhalten),
womit in Saʿudi‐Arabien die Religionspolizei gerechtfertigt wird. Im klassischen Islam stehen diesem
– unbestrittenen Gebot – gleich drei Regeln gegenüber: die trivialste ist die Erkenntnis,
dass es nicht großen Mutes bedarf, einen Schwachen auf seine mangelnde
Frömmigkeit hinzuweisen (über die der sich ohnehin klar sein dürfte), dass es also darum
geht, dem Mächtigen, der seine Kompetenzen überschreitet, in die Schranken zu
weisen. Das zweite Gegenmittel ist eine der wichtigsten Tugenden überhaupt: ṣabr
(Geduld), was nicht nur Hartnäckigkeit/Beharren, sondern auch Duldsamkeit gegenüber Sündern
einschließt. Schließlich gilt:
Was Gott mit dem Schleier (saṭr) bedeckt hat, soll der Mensch nicht aufdecken.
Es geht also einen gesitteten Bürger nichts an, was im Privaten geschieht; selbst wenn
laute Musik aus einem Haus dringt, berechtigt das niemanden,
in das Haus einzudringen, um zu schauen, ob dort eventuell Wein getrunken wird.
Der Fromme darf zwar seinen Nachbarn deswegen ermahnen, aber ohne ihn bloßzustellen.
Üble Nachrede ist eine Sünde gegen Gott und die Mitmenschen.
Anders gesagt: Mir besingt Bauer zuviel die hohe „Ambiguitättoleranz“, buchstabiert
sie zuwenig als lebenswirkliche Vielfalt und laissez‐faire aus. Er schaut mir
zuviel in die Bücher, zuwenig in die Häuser, Bäder und Gärten.
Seitenlang führt Bauer aus, dass Christen beim Vollziehen der Ehe keinen Spass haben
dürfen, ohne das irgendwie zu belegen – das einzige Zitat, das er bringt, geht gegen
Empängnisverhütung, nicht gegen Spass dabei.
Und da ich schon bemerkt habe, dass er ein ganz privates verzerrtes Bild von der
Kirche hat, habʹ ich bei Kirchenvätern und Scholastikern,
und auch in die Beichtspiegel aus meinem Bücherschrank geschaut. Hier das Ergebnis:
„Habe ich gesündigt durch Mißbrauch der Ehe? durch Mißbrauch mit mir selbst?
durch Rücksichtslosigkeit? durch Mangel an Opferbereitschaft?“ (Gesang‐ und
Gebetbuch, Trier: Paulinus 1955. S. 615)
„Habe ich die Pflichten der Ehe verletzt?“ (Schott, Messbuch, Anhang, Freiburg;
Herder, 1929 – 1966 unverändert)
„Achte ich die persönliche Würde meines Ehepartners? Bemühe ich mich, daß unsere
Liebe zueinander wächst? Oder war ich eigensüchtig, rücksichtslos, nachtragend, zu
empfindlich?“ (www.herzmariens.de/Texte/beichte/erwachs.htm)
„Suche ich die Person meines Ehepartners oder sehe ich in ihm nur ein Mittel zur
eigenen Befriedigung?“ (Gotteslob)
Selbst bei den Fundamentalisten ist nur von Empfängnisverhütung die Rede, nie von
unerlaubter Lust in der Ehe.
Bauer macht viel daraus, dass im Westen mit der Natur für und gegen bestimmte
Formen des Sexes argumentiert werde, die Natur sei die Hure der Moral, im Islam
gebe des dergleichen mit ṭabīʿa nicht. Vielleicht sollte er mal unter fiṭra
oder ḫalq nachgucken.
Kein Lekorat
Komisch, dass bei Bauer einmal die Jurisprudenz vor aš‐Šāfʿī „an der Tradition
des Propheten ausgerichtet“ war (42) und ein ander Mal es Šāfʿīs Werk war, „das
Prophetenḥadīth als Rechtsquelle“ zu etablieren (159). Hat er da zwei
unterschiedliche (ungenannt bleibende) Quellen zu Rate gezogen? Nach meinem Verständnis
hat die zweite Recht: Vor aš‐Šāfʿī hat man sich an der Praxis der Gemeinde,
dem Koran und vernünftigen Argumenten ausgerichtet.
Falsche Ausdrücke, Wiederholungen, schiefe Bilder stören – der Verlag hat wohl am
Lektorat gespart. Sonst hätte etwa Abū‐Ḥanīfa den Bindestrich verloren. Mir sind
auch viel zu viele „bekanntlich“s, „also“s, „offensichtlich“s und „zweifellos“e drin.
Verglichen mit anderen deutschen ProfessorInnen schreibt Bauer schön, doch es
ginge auch mit weniger Englisch und Latein.
Köstlich sind Formulierungen wie „Unnötig zu sagen, daß“ (270). Bezeichnender ist,
dass Bauer „Ideologie“ für „ambiguitätsfeindlich, klar und totalitär“ (52, 58) hält –
ohne den Begriff zu definieren oder eine Quelle für dieses Verständnis des Wortes
anzugeben. Dass Marx den Begriff als Verschleierung ungerechter Verhältnisse und
als Rechtfertigung von (Klassen‐)Interessen charakterisiert, ist ihm nicht bekannt
gharīb
Ein ganzes Kapitel widmet Bauer den Fremden im Islam bzw. bei Arabern. Er sagt,
dass es im klassischen Arabisch weder den Begriff noch die Vorstellung von Fremden gegeben habe.
Er behauptet, dass Fremdheit im Arabischen nicht objektiv von
außen gedacht ist, sondern als „emotionaler Mangel im sich fremd fühlenden“, dass
Fremd‐Sein „durch kein Wort ausgedrückt werden“ kann. (347) Bauer ist hier auf
seinem Gebiet und er hat das ausführlich studiert, aber ich glaube es trotzdem nicht.
Das gleiche Wort (gharīb) wird nämlich nicht nur auf Menschen angewandt, sondern
auf alles mögliche, zum Beispiel auf Worte im Koran, und von denen glaube ich nicht,
dass sie sich in ihrer Umgebung nur fremd fühlen; im Wörterbuch steht:
seltsam, auffallend, ungewöhnlich, wunderlich, eigenartig, sonderbar, grotesk, schwer
verständlich, dunkel, entlegen, ausgefallen, gekünstelt, maniriert. [Noch zweimal wäre das Wort in anderem Kontext von Bauer zu nennen: Ein Muḥammad-Spruch, der nur von einem übermittelt wird, heißt so (und nicht wirklich shadhdh wie Bauer schreibt), und ein Soldat, der aus einem anderen Regiment abkommandiert wird, mag sich
zwar fremd fühlen, aber der wird vor allem wie ein Fremder behandelt.]
Heute zumindest benutzen die Araber Jerusalems das Wort genau wie wir, wenn sie von Fremden
reden, manchmal benutzen sie auch al‐Khalaila (die Hebroner), so wie ein Bayer von
„Preißen“ spricht; der Bewohner Marrakeschs hat ein bemäntelndes und ein klares
Wort für den Zugezogenen: Marrakschī (denn er selbst heißt nach dem Beinamen „die
Prächtige“ Bahjawī) und Barrānī (der Auswärtige). Besonders „freundlich“ ist die
ramallahesische Bezeichnung Tailandi für einen Gastarbeiter aus dem Norden der
Westbank oder die Bairuter für Dienstmädchen gleich welcher Herkunft: Srilankiya.
Wem das nicht klassisch genug ist, Barbar/ʿajamī ist es gewiss. Man muss schon eine
sehr rosa getrübte Wahrnehmung haben, wenn man ernsthaft meint,
der „klassisch‐islamische“ Araber sei ohne Ausgrenzung ausgekommen. Nur lief bei ihm die
Abgrenzung eher über Verwandtschaft (fremdstämmig aǧnabī)
und über Religion (andersgläubig, ungläubig, ketzerisch kāfir).
Bauer klammert die Frühzeit aus, weil er "den" Vielfalt‐duldenden Islam besingen will,
in dem es weniger ja‐nein gibt als sowohl‐als‐auch, weniger richtig als wahrscheinlich.
Nun ist es aber so, dass die Dogmatiker immer und überall – oder vorsichtiger gesagt:
im Westen wie im Nahen Osten – eher auf ja‐nein beharren und die Juristen sich überall mit
Mit‐an‐Sicherheit‐grenzender‐Wahrscheinlichkeit zufrieden geben.
Indem Bauer die Frühzeit, in der Glaubensfragen eine große Rolle spielten,
links liegen lässt, und díe Epoche herausstellt, in der Juristen den Ton angaben,
erscheint der Islam als weicher. Die vielen Fälle, in denen in Bauers Mittelalter
Gelehrte ins Gefängnis kamen, wegen schiʿitischer, anthropomorpher oder sonstiger Abweichungen,
lässt er – natürlich – unerwähnt.
Auch sonst ist er selektiv blind. Die Muʿtaziliten, „angeblich rationalistische“
Lieblinge des Westens, seien „rigoros“ für die ewige Hölle gewesen, wo hingegen
beim sunnitischen Hauptstrom alle Muslime im Paradies Sex haben. Das Argument
der Muʿtazila unterschlägt er: Wenn ein Christ wegen der Sünde des Unglaubens
ewig brennen muss, dann ist es doch nur gerecht, dass ein Muslim wegen
unbereutem Lustmord ewig bestraft wird. Er tut so, dass die Rationalität der
Muʿtazila nur orientalistische Propaganda war, und den Wert von Gerechtigkeit
gegenüber göttlicher Tyrannei erkennt er nicht.
Er tut auch so, als habe man im postformativen Islam alles und jedes unglauben dürfen.
Die Lockerheit in manchen Fragen herauszustellen ist Bauers Verdienst.
Leider übersieht er, dass diese Lockerheit auf der sicheren Stellung seiner Protagonisten, den männlichen, sunnitischen Gelehrten,
Bürokraten und Herrschern, beruht und darauf, dass das Dogma/ʿaqīda jeder Kritik
entzogen ist, und das ist eine ganze Menge:
Gott ist der allmächtige, ewige Schöpfer und Erhalter der Welt,alle menschlichen Handlungen hat er geschaffen,
Muhammad ist der letzte seiner Gesandten,
der Koran sein ungeschaffenes Wort,
es gibt Engel, Geister, Offenbarungsbücher, das Jüngste Gericht, Hölle und das Paradies,
die ersten drei Kalifen waren rechtgeleitet …Während es in der formativen
Phase noch Manichäer und Skeptiker gab, und während man im modernen Europa Alles in Frage
stellen kann, war das im Nahen Osten durchaus anders. Natürlich unterschlägt
Bauer, dass das Dogma zu akzeptieren ist, ohne es verstehen zu wollen (bilā kaif),
und dass nach Ibn Ḥambal das Offenlassen von Glaubenspunkten noch schlimmer
ist, als Falsches zu glauben.
Nur so kann Thomas Bauer die Position heutiger
saʿudischer Gelehrter als völlig von der Tradition
abgeschnittene, westliche Haltung –
wenn auch mit anderem Inhalt – darstellen. Er macht des Guten zu viel.
Zur Umschrift
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich bei der Umschrift versuche, die
arabische Hochlautung wiederzugeben und nicht die Schrift. Die Wiedergabe der
Schrift (Transliteration) ist nur dann sinnvoll, wenn die Leser mit der arabischen
Schreibung vertraut sind, aber arabische Lettern technisch nicht zur Verfügung stehen;
für Bibliothekare empfehlen einige ein Mischsystem. In allen anderen Situationen
führen nur Dummheit oder gedankenloser Traditionalismus zu inkonsequenten
Umschriften, wie Ḥanbal obwohl Ḥambal gesprochen wird ([mb] wird auf Arabisch
immer nūn + bāʾ geschrieben und „unbewegtes“ nūn + bāʾ
wird immer [mb] gesprochen).
Bauer liefert viele Beispiele inkonsequenter Umschrift. Der Gipfelpunkt der
Verschmocktheit: „ich füge den arabischen Text hinzu; um einen akustischen Eindruck
vom Klang des Originals zu bekommen, muß ... ‐an als ā ausgesprochen werden.“
(120). Warum schreibt er dann nicht ā – zumal im Arabischen ā geschrieben wird?
Noch ein Beispiel: gharībun bi‐hādhihī l‐bilādi ghurbataini (344); am Ende von hādhihi ist
weder ein ī/yāʾ geschrieben, noch wird hier ein langes ī gesprochen. Ich weiß, dass
Bauer nicht der einzige deutsche Orientalist ist, der so verfährt. Dennoch ist es
grottenfalsch.
Soweit meine Besprechung in inamo 70, Sommer 2012
Jetzt noch ein Abschnitt aus
einem Vortrag,
den Lutz Berger 2018 in Würzburg gehalten hat,
den man ganz im Netz findet (plus meinem Einschub über nordisches Klima)
Ich glaube, es ist in diesem Kontext wichtig, die Felder, in denen
Ambiguitätstoleranz postuliert wird, in den Blick zu nehmen.
Ambiguitätstoleranz herrschte im Bereich der Einzelfragen der Religion, vor
allem soweit diese politisch ungefährlich waren, vielleicht im Bereich
der Sexualität, soweit sie nicht erbrechtlich relevant war, in einer Literatur,
die nicht unbedingt als littérature engagée angesehen werden
kann. Die Freude am sprachlichen Spiel, der Stolz auf besonders eleganten Ausdruck,
am Überraschenden ist gerade da besonders groß,
wo die elegante Form im Mittelpunkt stehen kann, wo man l'art pour
l'art betreibt und nicht die Notwendigkeit der Übermittlung einer
Botschaft die Freude an der Form erstickt.
Alles, was mit politischer Macht, mit Besitz, mit sozialem Status zu
tun hatte, war keinesfalls Gegenstand einer besonderen Toleranz gegenüber
Zweideutigkeiten. Die strikte Trennung von männlichen und
weiblichen Sphären, von der oben bereits die Rede war, diente der
Vermeidung jedweder Ambiguität in Hinblick auf Unterhalts- und
Erbansprüche.
Ich würde daher postulieren, dass die Freude an der Ambiguität und
die Vielzahl der Felder, in denen sie zum Ausdruck gebracht werden
konnte, etwas zu tun hat mit der Trennung der Sphäre der Intellektuellen
und Gelehrten, die Bauer untersucht, von der der politischen
Macht, die er nur am Rande behandelt. Ambiguitätsfreude der
Intellektuellen ist Ausdruck des weitgehenden Fehlens
einer überregionalen politischen Öffentlichkeit, einer gelehrten Debatte über Macht
und Politik. Über Machtfragen entschied in der Regel das Schwert,
nicht die öffentliche Meinung der Gelehrten.
Die Bereitschaft, in politisch relevanten Fragen Meinung und Gegenmeinung
öffentlich und gleichberechtigt nebeneinanderzustellen
und die damit zusammenhängende Ambiguität auszuhalten, war, soweit ich sehe,
in vormodernen Gesellschaften generell, jedenfalls
aber in den islamischen Gesellschaften der Epoche, die Thomas Bauer
in den Blick nimmt, selten so groß wie in der klassischen europäischen Moderne,
die doch in unserer Postmoderne gemeinhin gerade
auf Grund ihres Drangs nach Eindeutigkeit kritisiert wird. Was könnte
von größerer Toleranz gegenüber widersprüchlichen politischen
Wahrheitsansprüchen zeugen als das so moderne Konzept von „Her
Majesty's loyal opposition“?
Ist Ambiguitätstoleranz ein spezifisch vorderorientalisches Phänomen?
Ich würde auf den ersten Blick die These unterstützen,
dass im Vergleich mit westeuropäischen Gesellschaften
vorderorientalische tendenziell uneindeutiger waren.
Das ergab sich daraus, dass dort in der
Vormoderne zentrale und strukturierte Institutionen der Normierung
von Denken und Verhalten fehlten. Es gab keine Kirche, schon gar
keine Inquisition, der Unterricht war lange Privatsache und blieb
dauerhaft viel stärker von den selbstbestimmten Interessen der Lernenden geprägt als im Westen.
Was die höheren Studien angeht, änderte sich das in der Osmanenzeit bald nach 1500, aber nur für die, die
im Staatsdienst Karriere machen wollten.
Was für die intellektuelle Welt galt, galt auch für die Gesellschaft als
Ganzes: Eine Ständeordnung, die jeden in einen vorgegebenen
Lebensweg zwang, bestand nicht. Natürlich konnte nicht
jeder vom Tellerwäscher zum mächtigen Günstling des Herrschers aufsteigen.
Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die soziale Ordnung deutlich
offener war als in Alteuropa. Das Konzept der Privatheit, das einem
jeden die Möglichkeit gab, in seinem eigenen Bereich zu leben, wie er
es für richtig hielt, verbunden mit dem Respekt vor den privaten
Lebenentscheidungen einzelner, war deutlich stärker entwickelt. Unterschiedliche religiöse Gruppen lebten nebeneinander – sicher mit
klarer Rangordnung, aber doch deutlich spannungsfreier als in
Westeuropa vor dem 18. Jh. All das schuf Voraussetzungen
für Ambiguitätstoleranz, die in Westeuropa so nicht existierten.
Einschub Arno Schmitt: In Nord- und Mitteleuropa schliefen
Herrschaft und Gesinde, Männer, Frauen und Kinder – oft auch Tiere –
im gleichen Zimmer – beim einzigen Feuer, über oder neben dem Stall. Im
Mittelmeerraum und beim Golfstrom war es einfacher, Einzelzimmer zu bewohnen.
Auch hier haben historische Materialisten einen anderen Blick auf
Phänomene der sozialen und der geistigen Welt als Idealisten.
Aber können wir mit dieser These sicher sein? Können wir
Ambiguitätstoleranz objektiv messen? Ließen sich nicht,
suchte man aktiv danach, zahlreiche Beispiele für
Ambiguitätstoleranz auch in der alteuropäischen Kultur
anführen? Waren westliche Reisende der Mongolenzeit von Wilhelm von Rubruk bis Marco Polo weniger unaufgeregt
als Ibn Fadlân? Konnten Geistliche der mittelalterlichen Kirche sich
nicht für die Literatur der heidnische Antike begeistern
oder unzüchtige Vagantenlyrik verfassen?
Waren im Hause des christlichen Gottes nicht auch viele Wohnungen,
so dass die Pracht der Benediktiner
neben der Armut der Franziskaner stand?
Oder, um den Blick fort von Europa nach Ostasien zu wenden: Finden
sich nicht in den Literaturen Chinas und Japans zahllose Beispiele für
bewusste Unklarheit und Doppelbödigkeit, die denen der
muslimischen Literaturen in nichts nachstehen?
Wenn wir von Literatur sprechen, können wir die Frage stellen,
ob logische Stringenz in Handlungsablauf und Charakterzeichnung in
vormodernen Literaturen auch des europäischen Mittelalters stets
eingefordert worden ist. Hat man nicht hier oft Unklarheit und Zweideutigkeit
toleriert, einfach, weil die Idee der logischen Stringenz von
Erzählung genauso wenig zwingend ist wie die perspektivische Darstellung in der Malerei.
Gleichviel: Vormoderne Kulturen, so möchte ich in aller Vorsicht formulieren,
haben eine Tendenz, bei der Beschreibung der Welt uneindeutig zu sein. Die dauernde
Einforderung von Eindeutigkeit, Normierung, Rechenhaftigkeit
und das Streben nach dem Aufweis klarer Kausalbeziehungen in allen Bereichen
von Weltbeschrebung und -erklärung ist zweifelsohne ein Phänomen der westeuropäischen Moderne
genauso wie ihres nahöstlichen Gegenstücks und unterscheidet beide von den Epochen davor.
Die westeuropäische Moderne ist
allerdings beim Beschreiben und Beherrschen von Welt erfolgreicher als
die Moderne des Vorderen Orients, weil sie seit dem 17. Jh. die
Vorläufigkeit jeder eindeutigen Beschreibung angenommen hat: ein zutiefst
ambiges Konzept. Die Menschen im Vorderen Orient haben Moderne
seit dem 19. Jh. auch als Kontrollverlust wahrgenommen. Sie waren
daher schlechter in der Lage, die Ambiguität, die darin liegt, dass man
einerseits exakt beschreibt, erklärt und normiert, andererseits die
Ergebnisse dieses Prozesses immer nur für vorläufig hält, zu ertragen.
–